Auf den Punkt: Merle Weißbach, Liedermacherin, Biesenthal, Brandenburg

„Musik ist ein emotionales Medium, mit dem sich Menschen erreichen lassen.“

19. September 2024

Lesezeit: 3 Minute(n)

Was verstehst du unter politischem Lied, politischer Musik?

Ich finde, es gibt viele verschiedene Wege, musikalisch auf politische Entwicklungen einzuwirken, sich zu positionieren, sichtbar und hörbar zu werden. Texte, die sich politisch äußern, sind ein Weg. Das kann ja auch auf ganz persönlichen Ebenen passieren. Ich hab zum Beispiel ein Lied, das einen Dialog einer Mutter mit ihrem Kind darstellt, die getrennt voneinander sind. Mir geht es da um die Auswirkungen wirtschaftlicher Zwangsmigration. Davon habe ich viel mitbekommen, als ich in Moldawien gelebt habe. Ich finde es wichtig, solche Situationen zu thematisieren (auch wenn es nicht meine eigenen Erfahrungen sind – viel wichtiger noch finde ich, betroffenen Menschen selbst eine Stimme und Bühne zu geben). Musik macht es für mich noch mal anders berührend. Wichtig finde ich auch die Frage, was ich mit der Musik mache, wo ich auftrete, in welchen Kontexten ich mich engagiere. Es gibt zum Beispiel Initiativen wie die Lebenslaute (lebenslaute.net), die mit Musik Aktionen zivilen Ungehorsams durchführen. Ich verkaufe meine Alben auch zu Solizwecken für eine Initiative gegen Abschiebung.

Was kann ein politisches Lied bewirken?

Für mich ist Musik ein emotionales Medium, mit dem sich Menschen erreichen und Inhalte transportieren lassen. Die Frage ist natürlich, wen kann und will ich damit erreichen. Ich muss ja mittlerweile davon ausgehen, dass Menschen im Publikum sind, die sich von rechten Positionen zumindest nicht klar abgrenzen. Will ich mich da in bestimmten Kontexten noch um Dialog bemühen? Wie funktioniert das überhaupt, wenn ich mich gleichzeitig klar gegen AfD und Co. positioniere? Ich finde Musik ein wichtiges Medium, um einen gemeinsamen Raum zu schaffen und Menschen zu stärken, zum Beispiel in einer klaren Haltung gegen gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit. Das ist mir persönlich in der aktuellen Situation wichtiger, und darin sehe ich mich eher.

Welches Lied findest du besonders wichtig und warum?

Ich nenne mal eines, das viel mehr Aufmerksamkeit bekommen könnte: „Aušvicate Hi Kher Baro“ – „In Auschwitz steht ein großer Bau“. Dieses Lied wurde im Lager von Roma komponiert und gesungen. Es thematisiert die Situation im KZ und damit den „Porajmos“, also den Genozid an 500.000 Sinti und Roma. Singen im Lager war an sich ein Akt des Widerstands, und dieses Lied ruft auch explizit dazu auf. Es ist gleichzeitig eine Botschaft in die Welt außerhalb des Lagers, während der NS-Zeit sowie nach 1945. Der Porajmos wurde jahrzehntelang geleugnet und verschwiegen. Es geht um die Verfolgung und Ermordung einer marginalisierten, oft von außen konstruierten Gruppe, die seit Jahrhunderten und nach wie vor in sämtlichen Lebensbereichen mit massivem Rassismus konfrontiert ist. Das Lied wird mittlerweile häufig bei Gedenkveranstaltungen gesungen.

Musik ist ein emotionales Medium, mit dem sich Menschen erreichen lassen.

Welche Bedeutung hat – oder welche Rolle spielt – Politik in der Musik heute aus deiner Sicht?

Auf ganz vielen Ebenen. Ich benenne mal zwei Aspekte. Erstens: Wer bekommt die Bühne? Welche Menschen werden gehört? Wer bekommt Aufmerksamkeit? Welche Rolle spielen da Diskriminierungslinien? Klassismus zum Beispiel – das geht ja zumindest bei klassischer Musik superfrüh los, wer da Zugang hat. Sexismus, Rassimus, Ableismus und so weiter spielen natürlich ebenso eine Rolle. Ich sehe mich da eindeutig privilegiert. Gleichzeitig ist es als alleinerziehende Mutter auch eine ziemliche Hürde für mich, überhaupt Konzerte spielen zu können. Oder zweitens: Wie viele Klischees und Stereotype werden in Liedtexten reproduziert? Oft unbewusst und ungewollt. Ich sehe mich da als Textdichtende in der Verantwortung, mich mit Diskriminierung und ihrer Reproduktion durch Sprache auseinanderzusetzen. Ich denke, Politik spielt einfach immer eine Rolle, alles, was wir tun oder nicht tun, hat doch Einfluss auf gesellschaftliche Entwicklungen.

Oft werden politische Lieder missbraucht, vereinnahmt, fehlinterpretiert. Wo ist die Grenze? Ist das legitim? Lässt sich das überhaupt verhindern?

Lässt sich wahrscheinlich nicht verhindern. In dem Thema stecke ich nicht drin, aber ein spontaner Gedanke dazu: Musik für menschenfeindliche Zwecke zu nutzen, finde ich natürlich höchst problematisch. Und das passiert leider an vielen Stellen, ob dafür komponiert oder vereinnahmt.

www.merlecello.de

www.instagram.com/merlecello

Foto: Alexander Zimmermann

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