„Frisia non cantat.“ – „Friesland singt nicht.“ Der schon fast zweitausend Jahre alte Ausspruch des Tacitus ist ebenso legendär wie falsch. Vor allem die nordfriesische Folkszene hat den Gegenbeweis angetreten. Angefangen bei Knut Kiesewetter in den Siebzigern über Kalle Johannsen vom Husumer Trio Dragseth bis zur Kalüün-Sängerin Keike Faltings aus Föhr, hat sie auf internationalen Festivals wie folkBALTICA, dem Schleswig-Holstein Musik Festival, dem Tønder Festival und zuletzt 2022 als exotisches Sahnehäubchen im Herder-Programm des Rudolstadt-Festivals friesische Lieder auf große Bühnen gebracht.
Text: Jens-Peter Müller
Auf Friesisch lautet das Tacitus-Zitat: „Fresklun schongt ei.“ Wer Plattdeutsch spricht oder versteht, kommt damit also bei friesischen Texten nicht ganz so weit, wie man denken könnte. Friesisch weist ebenso wie zum Niederdeutschen auch Verwandtschaft zum Holländischen, Englischen und den skandinavischen Sprachen auf. Ei („nicht“) sagen zum Beispiel auch die Norweger im Nynorsk.
Etwa 400.000 Menschen bezeichnen Friesisch heute noch als ihre Muttersprache. Die meisten davon leben im holländischen Westfriesland, etwa 8.000 in Nordfriesland. Das Nordfriesische mit seinen insgesamt neun verschiedenen Dialekten ist eine von vier sogenannten autochthonen (angestammten) Minderheitensprachen in Deutschland, neben dem Romanes der Sinti und Roma, Sorbisch (siehe auch Artikel in folker #2.23) und Dänisch.
Fünf Hauptsprachen gibt es im nordfriesisch-dänischen Grenzgebiet: Hoch- und Plattdeutsch, Friesisch, (Hoch-)Dänisch und Sönderjysk. „Das ist ein Eldorado für Linguisten!, schwärmt Kalle Johannsen. „Nicht umsonst kommen die Linguisten aus Schweden, Holland, Schottland, Nordamerika, um hier zu forschen.“ Es waren auch ausländische Professoren, die in der Friesistik erste Forschungen angestellt und seit den Fünfzigerjahren die Lehrstühle an der Universität Kiel besetzt haben. 1965 wurde das Nordfriesische Institut in Bredstedt (friesisch „Bräist“) gegründet. Nach jahrelangen finanziellen Schwierigkeiten stellt es heute eine bedeutende von den Kommunen, Land und Bund geförderte Einrichtung zur Erforschung, Förderung und Pflege der nordfriesischen Sprache, Geschichte und Kultur mit Weiterbildungsangeboten, einem ambitionierten Ausstellungsraum und eigenem Verlag dar. Der aktuelle Institutsleiter Christoph Schmidt ist auch Musiker und bekennender Folkfan. Sein Herzensprojekt ist das Buch Nordfriesische Geschichte in Liedern – 1945 bis 2020 von Claas Rieken. Eines der 23 Lieder, zu denen Schmidt Chor- und Klaviersätze schrieb, ist der berühmte „Biiken sung“ von Knut Kiesewetter über den vermeintlich alten friesischen Brauch des Biikebrennens, bei dem am 21. Februar an vielen Orten auf den Inseln und auf dem Festland Feuer zur „Vertreibung der Geister“, wie Kiesewetter singt, entzündet werden. Anfang der Siebziger fand sich der preisgekrönte Jazzmusiker in einem der ersten Friesischkurse des Nordfriesischen Instituts ein. Auf seiner LP Leeder vun mien Freesenhof (1976) machte er die älteste friesische Ballade „A Redher, a Bai“ („Ein Ritter und sein Knappe“) bekannt.
Dragseth Trio
Foto: Promo
Ein anderes Kapitel des Buches beschäftigt sich mit dem Song „Ströntistel“ (Stranddistel), einem von Kalle Johannsen vertonten Gedicht des 1940 im KZ Sachsenhausen verstorbenen friesischen Lyrikers Jens Emil Mungard. Auf einem der vielen Gedenksteine am KZ ist der Refrain des Liedes eingemeißelt. In der Übersetzung: „Dort auf dem Dünensand, / Hier auf des Lebens Strand, / Sind stachelig wir beide.“ „Ströntistel“ hat Johannsen auf dem gleichnamigen Soloalbum 2016 veröffentlicht. Der junge Multinstrumentalist Christoph Hansen, der damals als Tonmeister dabei war, beschäftigte sich daraufhin selbst intensiv mit den berührenden Mungaard-Texten. Seine auf hohem kompositorischen Niveau verfassten und arrangierten Vertonungen singen Kalle Johannsen und dessen Tochter Martje auf dem 2021 erschienenen Album Mungaard (mit hochdeutschen Nachdichtungen im Booklet).
Johannsen ist in einer hoch- und plattdeutschsprechenden Familie aufgewachsen. Vor über vierzig Jahren gründete er zusammen mit seinem Freund Manuel Knortz im Gasthof Dragseth am Husumer Hafen das Dragseth Duo. Heute existiert die Gruppe mit Jens Jessen als Dritten im Bunde als Trio. „Friesisch schlummerte durch meinen Großvater aber immer als Hintergrund in unserer Familie“, erzählt Johannsen. Im Rahmen seines Lehramtstudiums in Kiel belegte er Friesischkurse und unterrichtete dann selbst jahrelang Friesisch im schulischen Bereich als freiwilliges Angebot. 2003 veröffentliche er sein erstes Lied in friesischer Sprache als Beitrag zum Album Hiimstoun („Heimat“), die auf Initiative der dänischen Gruppe Drones & Bellows erstmals Lieder in allen fünf Sprachen des Grenzlandes präsentierte.
Die zweite wesentliche CD-Veröffentlichung für Johannsen war das Album Spöören („Spuren“) der Gruppe Kalüün von der Insel Föhr, das genau zehn Jahre später erschien. „Auf so frische friesische Folkmusik haben wir Jahrzehnte gewartet!“ Die Sängerin und Geigerin Keike Faltings, ihr Bruder Jan (Mandoline, Bouzouki, Cello) und Dennis Werner (Gitarre) interpretierten mit diversen musikalischen Gästen aus der norddeutschen Folkszene neben traditionellen und neueren Songs nach friesischen Gedichten von Vater Volker Faltings auch traditionelle Tanzmusik.
Kalüün bei folkBALTICA 2015
Foto: Ede_Kalüün, Wikipedia CC BY-SA 4.0 Deed
„Bei uns zu Hause lief schon in meiner Kindheit immer Folkmusik – irische, schottische, Wader, Debus“, berichtet Keike Faltings. „Wenn mein Bruder Jan und sein Freund Ole Carstensen vom Angeln kamen, dann griffen sie zu den Instrumenten – und ich als kleine Schwester durfte zwar nicht mitspielen, aber saß mit großen Augen und Ohren dabei.“ Irgendwann durfte sie dann doch mitspielen, und gemeinsam interpretierte man unter dem Namen Ballynacally erst einmal Irisches. Dann begannen die mit Friesisch als Muttersprache aufgewachsenen Jungfolkies mit „jugendlicher Neugier“ auf Spurensuche zu gehen und sich zu fragen, wie denn das, was in den alten Notenhandschriften als wahres „Füllhorn an Inspirationen“ zu finden war, wohl geklungen habe könnte – vor dem großen Bruch in den 1860er-Jahren. Die Insel Föhr war bis dahin politisch, verwaltungsmäßig und in gewisser Weise auch kulturell geteilt gewesen. Osterlandföhr gehörte zum Herzogtum Schleswig, Westerlandföhr unterstand dem dänischen König. Nachdem Preußen 1864 den Krieg gegen Dänemark gewonnen hatte, hielt eine ganze andere Kultur auf dem nordfriesischen Festland und den Inseln Einzug. Eine „andere Musik kam in Mode“, wie Faltings es beschreibt. Blasmusik zum Beispiel. „Wir haben uns gefragt: Wollen wir jetzt versuchen, etwas Vergangenes zu rekonstruieren, oder fangen wir an, die Noten neu, auf unsere Art zu interpretieren.“ Sie entschieden sich für Letzteres. Mit Erfolg. Das Album wurde prompt mit dem Preis der deutschen Schallplattenkritik ausgezeichnet.
Kalüün haben sich leider kürzlich aufgelöst. Die Gruppenmitglieder sind aber in unterschiedlichen Projekten weiter musikalisch aktiv. Keike Faltings ist gerade dabei, unter anderem mit Kalle Johannsen und Dennis Werner ein Album ausschließlich mit Liedern ihres Vaters aus der Sammlung Wederlaiden („Wetterleuchten“) aufzunehmen. Es soll noch im Herbst 2023 erscheinen.
www.christophhansen.bandcamp.com
www.kaluun.de
www.nordfriiskinstituut.eu
Videolinks:
Knut Kieswetter, „Biiken sung“: www.youtube.com/watch?v=Z16fghy1ynU
Drones & Bellows mit Dragseth Duo, „Ströntistel“: www.youtube.com/watch?v=LbnznFn5qB4
Kalüün, Trailer zu Spöören: www.youtube.com/watch?v=r00IXaqPuZ8
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