Nachdem die Brüder Lynch ihre Zeit in anarchistischen Punkbands hinter sich gelassen hatten, fragten sie sich, wie sie mit Musik weiter machen wollten in Dublin? Ian Lynch erzählte im Konzert, dass alle ihre Freunde um die Jahrtausendwende die irische Hauptstadt in Richtung europäischem Festland verlassen hatten, um irgendwelche fest bezahlten Jobs zu finden. Für Ian und seinen Bruder Daragh, die beiden Multiinstrumentalisten und den musikalischen Kern von Lankum, war das keine Option. Es schien ihnen einfacher, sich Auftrittsorte in Dubliner Kneipen zu suchen. Doch Ian Lynch fühlte gegenüber der traditionellen Musikszene der irischen Hauptstadt eine große Distanz. „Mein Problem ist diese ganze traditionelle Musikszene. Sie steht für alles, was ich nicht leiden kann. Jeder der damit zu tun hat, ist nationalistisch, rückwärtsgewandt“, so sein durchaus kontroverser Rückblick auf seine Anfänge. ‚Ich bin Anarchist, warum sollte ich mich in diese Szene einfügen?“
Text: Michael Freerix
Sein Blick änderte sich, als er sich eindringlicher mit dem traditionellen Musikmaterial beschäftigte. Er fand nichts darin, was einer konservativen Musikethik huldigen würde. Mit dieser Erkenntnis im Rücken zogen die beiden Lynch-Brüder, nun unter dem Bandnamen Lynched, durch die lokale Kneipenszene. „Gage gab es nicht“, erzählt Daragh Lynch, „bis auf ein paar Bier.“ Und tatsächlich lernten die beiden dabei eine Menge Songs kennen, die ihnen das Publikum vorsang.
Der frühe Sound war allerdings noch sehr von ihren wilden Bandroots geprägt. Doch die überaus rauen und aggressiven Interpretationen der alten Lieder kam bei den Leuten gut an. Zwei Alben entstanden, es gab sogar eine US-Tour. „Wir interessieren uns nicht nur für Musik, die aus unserer Heimat stammt“, erklärt das heutige Lankum-Bandmitglied Radie Peat dazu. Und Daragh Lynch ergänzt: „Oft gibt es Verbindungen zwischen den alten Songs. Sie sind gereist und haben sich auf ihrer Reise von einem Ort zum anderen entwickelt.“ So trafen auf der Bühne irische Songs auf schottische oder amerikanische oder sogar deutsche. Nur selten trat Eigenkomponiertes dazwischen, aber auch die irische Version der „Moorsoldaten“ als „Peat Bog Soldiers“.
„Wir interessieren uns nicht nur für Musik, die aus unserer Heimat stammt.“
Wenn man ihre Alben hört, kann man schon sagen, dass Lankum einen Hang zu eher tragischem oder fatalistischem Material haben. Peat erzählt zu ihrem Zugang zu den Liedern: „Manchmal zieht es mich einfach zu bestimmten Songs hin. Umso mehr, wenn ein Stück in der Geschichte fehlt oder es etwas Mysteriöses darin gibt. Wenn ich das dann interpretiere, versuche ich mich in diese Story hineinzusingen, aber ich verstehe die Story eigentlich nicht.“ Umso erstaunlicher ist es zu erleben, wie enthusiastisch das Publikum bei Liveauftritten auf diese Interpretationen, die eher still und verhalten sind, reagieren. Die langen Intros und Outros, die die Band den Stücken mittlerweile verpasst hat, unterstützen die dunklen Themen in ihrer Tragik und stellen dadurch ein komplexes Weltbild her. Das liegt sicher auch an den beiden später hinzugekommenen Bandmitgliedern, der Sängerin und Multiinstrumentalistin Radie Peat, und dem Geiger und Multiinstrumentalisten Cormac MacDiarmada, die 2014 dazustießen. Beide sind eher in der traditionellen Musikszene verankert, dennoch offen für jede Art von Experimenten.
Dies hat die musikalischen Facetten der Band wunderbar erweitert. So wurde es auch notwendig, einen neuen Namen für das zum Quartett erweiterte Duo zu finden. Schnell einigte man sich auf Lankum – unter Bezugnahme auf die Folkballade „False Lankum“. Und mittlerweile klingen sie eher, als wären sie von der Minimal Music oder Drone Music eines La Monte Young oder Tony Conrad beeinflusst, deren Theatre of Eternal Music zu Beginn der Sechzigerjahre das New Yorker Publikum in Erstaunen versetzte. Tatsächlich nennt Radie Peat den zeitgenössischen neoklassizistischen Komponisten Max Richter als einen wichtigen Einfluss. Peat wuchs in einem musikalischen Elternhaus auf. Früh lernte sie Konzertina spielen, zu der sich später Tin Whistle, Akkordeon, Banjo, Ukulele und Harfe hinzugesellten.
Auf ihrem aktuellen Album False Lankum kommen tatsächlich mehr als dreißig Instrumente zum Einsatz, wobei sehr viel herumexperimentiert wurde und ungewöhnliche Aufnahmetechniken verwendet wurden, aber auch ungewöhnliche Spielweisen. So spielen sie ihre akustischen Gitarren manchmal nur mit einem Geigenbogen, sodass diese zu reinen Klangquellen mutieren und nicht mehr Rhythmus oder Melodieinstrumente sind wie sonst. Ian Lynch ergänzt: „Klanglich besteht einfach ein Riesenunterschied zu unserem vorherigen Album. Wir waren wirklich neugierig darauf, was für unterschiedliche Sounds wir aus unserem Instrumentarium holen konnten – mittels verschiedener Stimmungen, der Positionierung des Mikros an einer Stelle, wo es normalerweise nicht positioniert wird, um damit das Schnaufen des Dudelsackes einzufangen, oder generell mittels Klängen, die verstimmt sind.“ Hin und wieder führte dies dazu, dass sie sich nicht überall mehr sicher sind, was in den Songs zum Einsatz kam. „Bei ‚New York Trader‘ zum Beispiel klingt es, als gäbe es irgendetwas zwischen einem Didgeridoo und einer Mundharmonika, aber ich weiß, dass keiner von uns diese Instrumente auf dem Stück gespielt hat“, erklärt Daragh Lynch. Das ist wohl symptomatisch dafür, wie ungestüm und erratisch sie bei aller Vielfalt doch auch noch klingen. Lankum sollen sogar in der Metalszene leidenschaftliche Fans haben, auch wenn ihre Musik als „unworldly“, „weltentfremdet“ beschrieben wird.
Natürlich spielt die Vielzahl der Instrumente eine erhebliche Rolle für ihren Sound. Bei Liveauftritten sind mehr als zwanzig davon auf der Bühne. Hinzu kommt, dass sie einen mehrstimmigen Chorgesang entwickelt haben, an dem sie lange intensiv herumfeilten. Auf Tour haben sie schon so manchen Toningenieur zur Verzweiflung gebracht, weil es nicht einfach um Leadgesang mit ein paar Backing Vocals geht, sondern um einen austarierten Harmoniegesang mit jeweils wechselnder instrumentaler Begleitung. Ein Soundcheck kann bei Lankum vier Stunden dauern, einfach, weil es auf die Balance von Instrumenten und Gesang ankommt und vom Widerhall im Raum her stimmen muss. Da sind die vier unerbittlich, und gar nicht „anarchistisch“.
Ein Kurzrezension von „False Lankum“ findet ihr hier:
Aktuelles Album:
False Lankum (Rough Trade Records, 2023)
Aufmacherbild:
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