Mutige Introvertierte

Warum manche Musikschaffende lieber im Hintergrund bleiben

12. Dezember 2023

Lesezeit: 6 Minute(n)

Weisen Musikschaffende bestimmte Charaktereigenschaften auf? Was unterscheidet einen Instrumentalisten von einem Sänger? Wie funktioniert eine Bandstruktur? Wer Musik hautnah verfolgt, ahnt, dass die Psychologie unter Künstlern und Künstlerinnen eine große Rolle spielt. Aber wie genau, das hat der folker im Gespräch mit Claudia Bullerjahn, Professorin für Systematische Musikwissenschaft und Musikkulturen der Gegenwart an der Justus-Liebig-Universität Gießen, näher beleuchtet.
Interview: Erik Prochnow

Frau Bullerjahn, sind Musikschaffende andere Menschen als Nichtmusikschaffende?

Die Forschung in der Systematischen Musikwissenschaft zeigt in der Tat, dass es auffallende Unterschiede in der Persönlichkeit von Musiker und Nichtmusikern jeglichen Geschlechts gibt. Häufig benutzt wird das sogenannte Fünf-Faktoren-Modell der Persönlichkeit, auch Big Five genannt. Danach lässt sich jeder Mensch anhand von fünf Kriterien beschreiben. Diese fünf Faktoren sind Offenheit für neue Erfahrungen, Gewissenhaftigkeit, Extrovertiertheit, das mit Geselligkeit und Betätigungsdrang einhergeht, Verträglichkeit, die Hilfsbereitschaft und Gutherzigkeit beinhaltet, sowie emotionale Labilität, die Ängstlichkeit und Reizbarkeit umfasst. Musiker zeigen dabei andere Ausprägungen als die übrigen Menschen.

Was zeichnet Musikerinnen und Musiker genau aus?

Im Vergleich zu Nichtkünstlern sind sie vor allem viel offener für neue Erfahrungen, allerdings sind sie zugleich etwas weniger gewissenhaft und weniger verträglich sowie deutlich emotional labiler. In ihrem musikalischen Selbstkonzept ist zudem ein Stolz auf musikalisches Können sowie Ehrgeiz stark ausgeprägt, wobei zumeist der Wunsch besteht, dies noch zu steigern. Außerdem erleben sie Musik sehr emotional. Untereinander allerdings gibt es keine bedeutsamen Unterschiede. Eine Bratschistin ist in ihren grundlegenden Persönlichkeitsmerkmalen nicht entscheidend anders als etwa ein Bassist in einer Rockband. Die Musizierenden selber untereinander sehen das jedoch oft nicht so. Da gibt es viele Vorurteile über einander, in Bands genauso wie in größeren Ensembles oder Orchestern. Doch in empirischen Studien konnten Wissenschaftler:innen bislang zumeist keine statistisch bedeutsamen Unterschiede messen. Es ist ein Klischee, dass sich Musizierende je nach gespieltem Instrument oder Musikgenre in ihrer Persönlichkeit wesentlich unterscheiden.

Claudia Bullerjahn

Foto: Susanne Hofmann

Wenn man von außen auf die Musikszene schaut, hat man aber tatsächlich den Eindruck, als würde es von unterschiedlichen Persönlichkeiten nur so wimmeln. Da gibt es die oft Raum einnehmenden Sänger oder Sängerinnen, die introvertierte Basssektion oder die fast unbeteiligt wirkenden Bandmitglieder am Schlagzeug. Ist das nur eine Illusion?

Nein, diese Unterschiede kann es geben. Aber im Durchschnitt unterscheiden sich Bandmitglieder nicht in Abhängigkeit von ihrem Instrument. Diese verschiedenen Charaktereigenschaften haben oft etwas mit der grundsätzlichen Struktur der Gruppe und den kulturellen gesellschaftlichen Entwicklungen zu tun.

Können Sie das näher erläutern?

Musikerinnen und Musiker sind grundsätzlich bereit, sich einem Publikum zu präsentieren, obwohl sie sich im privaten Bereich oft eher zurückhaltend zeigen. Man spricht deshalb auch von den „mutigen Introvertierten“. Sängerinnen und Sänger sind dagegen eher extrovertiert, was ihnen den direkten Kontakt mit dem Publikum erleichtert und sie bisweilen zum Sprachrohr einer Gruppe werden lassen kann. Anders sieht es da bei Gitarristen oder den Leuten an den Tasteninstrumenten aus.

Inwiefern?

Sehr häufig ist in Bandstrukturen die Sängerin oder der Sänger zwar das öffentliche Aushängeschild. Der eigentliche Bandleader ist jedoch meist der Gitarrist oder der Keyboarder, vor allem wenn es eine singende Frontfrau gibt. Nicht selten sind Gitarristen aber zugleich auch Leadsänger. Sie halten sehr häufig alles zusammen.

Woran liegt das?

Es hat etwas mit der Eigenschaft des Instruments zu tun. Die Gitarre, genauso wie das Keyboard oder das Klavier, sind keine reinen Melodieinstrumente, sondern sorgen für den musikalischen Rahmen in Form der Akkordfolgen. Für diese Instrumentalisten ist die harmonische Struktur, auf der alles basiert und die sie erschaffen, sehr wichtig. Sie haben sozusagen den musikalischen Überblick, und das qualifiziert sie damit automatisch für die Leitung. Weil die harmonische Akkordstruktur für die Gesamtheit der Band entscheidend ist, übernehmen oft auch Rhythmusgitarristen die Führung und eben nicht der Leadgitarrist oder die Leadgitarristin. In Ensembles, in denen die Gitarren eher im Hintergrund stehen, fällt die Leitung eher Keyboardern zu.

„Der eigentliche Bandleader ist meist der Gitarrist oder der Keyboarder.“

Es gibt doch aber auch Ensembles, bei denen der Sänger den Ton angibt, wie etwa im Fall des niederländischen Liedermachers Herman van Veen?

Das hängt davon ab, was stärker im Vordergrund steht, der Text oder die Musik. Sänger oder Sängerinnen haben oft die Hoheit über die Texte, vor allem wenn sie diese selbst schreiben. Wenn der Wert eher auf den textlichen Inhalten der Songs liegt, wird der schreibende Sänger deutlicher die Geschicke der Band prägen. Die Frage der Führung in Ensembles ist also: Liegt der Fokus auf den Riffs und der musikalischen Akkordfolge oder den Worten?

Es kann doch auch beides gleichzeitig wichtig sein?

Das beste Beispiel dafür sind die Beatles. Bei ihnen standen zwei Sänger im Vordergrund, die auch noch Begleitinstrumente spielten. Bei Paul McCartney war eher die Musik der kreative Ausgangspunkt, bei John Lennon war es der Text. Zudem waren sie bereit, sich ständig weiterzuentwickeln, das heißt entweder etwas Neues auszuprobieren oder Genreklischees zu parodieren beziehungswiese mit ihnen zu spielen. Es ist aber selten, dass es zwei dominante Bandleader gibt. Meist führt das aufgrund von Spannungen bald zur Trennung. Es ist daher schon ungewöhnlich, dass die Beatles so lange zusammenblieben. Die Rolling Stones dagegen haben ihr musikalisches Konzept, ihre Bandstruktur und ihre Bühnenshow mit Mick Jagger als unumstrittenen Leadsänger und sich exzessiv bewegendem Zentrum trotz vieler wechselnder Bandmitglieder nie wirklich geändert. Aufgrund dieser klar abgegrenzten Rollen können Jagger und Richards, die als kreatives Team von Anfang an dabei waren, trotz zwischenzeitlicher künstlerischer Differenzen in den Achtzigerjahren bis heute noch zusammen auftreten.

Keith Richards und Mick Jagger, Rotterdam, 1982

Foto: Marcel Antonisse, Anefo, Nationaal Archief, Wikimedia CC0 1.0

Diese beiden Bands haben auch Mitglieder wie etwa George Harrison, Ringo Starr, Charlie Watts oder der erwähnte Keith Richards, die als Instrumentalisten eher im Hintergrund standen oder stehen. Gibt es da nicht eine natürliche Neigung?

Die gibt es. Allerdings ist dabei sowohl die persönliche Entwicklung als auch die Wahl des Instruments von Bedeutung. Alle vier Beatles waren Autodidakten auf ihren Instrumenten, nur gehörte das Songwriting sowohl bei McCartney als auch Lennon sehr früh zum Musizieren dazu, sie hatten zudem eine reichere musikalisch-familiäre Sozialisation und viel mehr Banderfahrungen als die anderen aufzuweisen. All das zusammen ermöglichte ihnen, die Beatles zu leiten. Harrison wiederum interessierte sich für andere Kulturen wie das Spiel auf der Sitar, womit die anderen zunächst nicht viel anfangen konnten. Die Wahl des Instrumentes bestimmt zudem, wo man auf der Bühne steht. Das Schlagzeug ist immer im Hintergrund und bisweilen erhöht angeordnet und damit für Sänger, die den Kontakt zum Publikum suchen, nicht gut geeignet. Das ist auch der Grund, warum Udo Lindenberg oder Phil Collins schließlich nicht mehr am Schlagzeug saßen, sondern zum reinen Gesang wechselten. Auch andere Instrumentalisten wie Saxofonisten, Violinisten, Keyboarder oder Leadgitarristen stehen mit Ausnahme von Soli meist eher am Rand oder im Hintergrund. Zudem sorgen sie nicht – wie oft Rhythmusgitarristen, Bassisten und Schlagzeuger – durchgehend für die rhythmische Grundlage, sondern übernehmen nur bestimmten Passagen oder haben auch mal gar nichts zu tun. Gitarristen dagegen prägen oft den speziellen Sound einer Band, und die Individualität von menschlichem Gesang schlägt in dieser Hinsicht alle Instrumente.

„Bei Instrumentalisten und Instrumentalistinnen im Hintergrund handelt es sich oft um sehr sensitive Musiker.“

Weisen diese Instrumentalisten und Instrumentalistinnen im Hintergrund nicht aber auch andere Charakterzüge auf?

Oft handelt es sich dabei um sehr sensitive, ängstliche Musiker, die vielleicht auch starkes Lampenfieber haben. Das Stehen im Hintergrund gibt ihnen eine größere Sicherheit. Wird das Lampenfieber zu groß, ziehen sich diese Musiker meist in die Organisation zurück. Diese Erkenntnis konnte ich auch in einer Studie über Ensembles, die bei dem jährlichen Bundeswettbewerb „Jugend musiziert“ mitgemacht haben, bestätigen. Die Teilnehmer, die am wenigsten emotional stabil waren, zeigten das größte Lampenfieber.

Sind das auch die Gründe, warum Frauen in der Musik eher im Hintergrund stehen?

Nein, das hat sicherlich mehr mit den grundsätzlichen gesellschaftlichen Entwicklungen und der Stellung der Frau generell zu tun. Es ändert sich aber einiges. Wenn eine Frau in einer Band dabei ist, singt sie meist. Aber mehr und mehr Frauen sind inzwischen auch als Gitarristinnen oder Schlagzeugerinnen anerkannt. Im Metalbereich sehen wir sogar, dass sie dann auch die Führung übernehmen. Aber Frauen sind aus einem ganz anderen Grund in einer einzigartigen Situation. Sie können ein Instrument spielen, das den Männern verwehrt ist: die Frauenstimme mit ihrem besonderen Timbre. Die anderen Instrumente kann jeder spielen.

 

Aufmacherfoto:

Paul McCartney und George Harrison 1964

Foto: VARA , Wikimedia, CC BY-SA 3.0 NL

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