Liebe Freundinnen und Freunde der lateinamerikanischen Musik. Zunächst etwas in eigener Sache.
Seit längerer Zeit stelle ich fest, dass es immer schwieriger wird, über Neuigkeiten in der Latin Music zu berichten. Meine Kolumne bezieht sich hauptsächlich auf in Deutschland bzw. in Europa promotete Alben, weil so auch eine gewisse Chance besteht, die vorgestellten MusikerInnen hierzulande einmal zu erleben. Die Kolumne ist also kein Bericht aus Lateinamerikas Musikszene selbst, wo oftmals international unbekannte Interpreten den Markt bestimmen. In den letzten Jahren musste ich feststellen, dass bei den mir zur Besprechung zugesandten Alben die Anzahl der MusikerInnen, die tatsächlich in Süd- und Mittelamerika leben, dramatisch gesunken ist. Es sind eher in unseren Nachbarländern oder Deutschland lebende Lateinamerikaner, deren Veröffentlichungen zu uns dringen. Große lateinamerikanische Musikstars werden in Deutschland zudem kaum mehr promotet und kommen auch seltener auf Tournee. Wenn ich über sie berichte, dann fast nur aufgrund eigener Recherche. Die Wahrnehmung lateinamerikanischer Musik innerhalb des deutschen Musikmarktes scheint also stark abgenommen zu haben. Das hat mit gesunkenem Interesse bei den Konsumenten genauso zu tun wie mit geringerer Präsenz in den Medien wie auch mit dem Wandel von nationalen Musikstilen hin zu stilistischem Crossover innerhalb der World Music. Es mag noch viele andere Gründe geben.
In der Summe besteht die Gefahr, dass ich tendenziell nur noch über Veröffentlichungen am Rand des eigentlichen Inhaltes einer Kolumne über lateinamerikanische Musik berichten kann als über originäre Musik von dort. Zudem droht bei der angebotenen Musik Brasilien fast alle anderen Länder Lateinamerikas zu verdrängen. Insofern ist eine solche Kolumne nicht mehr repräsentativ im Sinne des Gemeinten.
Ich habe mich daher entschlossen, nach 27 Jahren die regelmäßigen Rezensionen zu lateinamerikanischer Musik einzustellen. Die Latin Music News #60 wird also die letzte Kolumne zu aktuellen Veröffentlichungen sein. Unabhängig davon werde ich im Folker weiterhin vereinzelt lateinamerikanische Musik besprechen und bei Gelegenheit Artikel, Konzertberichte und Interviews zu entsprechenden MusikerInnen schreiben. Auch plane ich, einmal im Jahr einen Jahresrückblick zu lateinamerikanischer Musik an dieser Stelle zu veröffentlichen. Hierzu kann es dann auch einen Podcast geben. Eine Art Rückblick über meine Kolumne im Laufe der Jahrzehnte mit einer näheren Analyse der Marktsituation wird hier wie auch im Podcast Latin Music Club noch einmal demnächst erscheinen.
Doch nun zur Musik. Einer der Altstars der brasilianischen MPB, der in Deutschland immer noch auf Konzerten zu sehen ist, hierzulande aber nicht mehr promotet wird, ist João Bosco. Mit anderen Worten, wer an Neuveröffentlichungen von ihm interessiert ist, sollte regelmäßig z. B. in Streamingdiensten nach ihm schauen.
JOÃO BOSCO
Boca Cheia De Frutas
Som Livre
Brasilien / MPB
João Boscos aktuelles Album wirkt wie der Anfang einer neuen Phase bei dem brasilianischen Gitarristen und Sänger. Während er sich in den letzten Jahren einige Male in Richtung Jazz oder elektrisch verstärkter Begleitung begab, kehrt er hier zu einfachen Arrangements nur mit Gitarre und Gesang zurück. Neu ist auch, dass Boscos Sohn Francisco inzwischen einige Songs schreibt, da Boscos langjähriger Texter Aldir Blanc 2020 verstarb. Auch klingt Boscos Stimme auf dem Album manchmal etwas kraftloser und die Höhen vermeidend. Dennoch liefert es etliche Highlights, die Bosco-Fans zufriedenstellen werden. So bietet „O Canto Da Terra Por Um Fio“ mit der Unterstützung von Cellist Jaques Morelenbaum seine typische faszinierende Rhythmik. Höhepunkt ist aber „O Cio Da Terra“, ein Stück von Chico Buarque, an das Bosco das rhythmische Kinderlied „Boca Cheia de Frutas“ anhängt. Er singt es in Yanomami, der Sprache eines der zahlreichen brasilianischen Ureinwohnerstämme des Amazonasgebietes. Das Lied erinnert stark an Boscos genialen perkussiven Gesang in seinen frühen Meisterwerken „Quilombo“ oder „Gagabiro“. Dazu erklingen etliche Urwaldgeräusche. Neben einigen sanften, aber belanglosen Songs glänzt Bosco dann noch mit dem für ihn typischen temporeichen Parforceritt in „Dinossauros Da Candelária“.
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GROUNDATION
Dub Rock
Bacao Records
USA / Reggae, Dub, Jazz
So kann man seine Fans auch bei Laune halten, ohne Neueinspielungen machen zu müssen: Man lässt ein Album in einer Dub-Version neu abmischen. Selbiges veranlasste die kalifornische Reggaeband Groundation nun innerhalb eines Jahres schon zum zweiten Male. Nach dem 20 Jahre alten Album Hebron Gate gab Frontman Harrison Stafford jetzt das erst 2022 erschienene Werk One Rock zur Neugestaltung frei, diesmal in die Hand von Dub-Mixer Jim Fox. Meist erwartet man von Dub-Versions wilde Effektgewitter im Wechsel mit auf Drums und Bass reduzierten Rhythmusparts. Das läuft hier anders ab. Groundation ist eine Band, die auf der Basis von Reggae in Richtung Jazz, komplexer Arrangements mit ungewöhnlichen Rhythmuswechseln, Klangideen wie Einsatz von Streichern und unter Einbeziehung mancher Reggae-Altstars arbeitet. Der Mix von Jim Fox macht den Eindruck, dass hier vor allem die Band, die Arrangements und die virtuosen Instrumentalisten deutlicher gewürdigt werden sollen als bei den originalen Tracks. Der Gesang vor allem von Harrison Staffords ist daher stark reduziert. Manche Spuren wurden z. B. weggemischt, um ein Solo besser zur Geltung zur bringen. Der Abwechslungsreichtum der Stücke wird so deutlicher. Dies erinnert manchmal an jazzige Frank-Zappa-Alben, besonders beim Track „Demons And Pagans“. Dub Rock ist eher eine Neuabmischung des Originals als eine Dub-Version und soll eine neue Begegnung ermöglichen. Daher hat man auch den Tracks andere Titel gegeben.
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EDSON CORDEIRO
Ouve A Minha Voz – Cordeiro Canta Baleiro
Savará Discos
Brasilien, Deutschland / MPB, Crossover
Lange hat man nichts gehört von der einstigen Wunderstimme Edson Cordeiro mit seinem Stimmumfang von vier Oktaven. Jetzt meldet er sich überraschend mit einem Album zurück, welches im ersten Moment ungewohnt wirkt. Cordeiro klingt hier nur noch vereinzelt nach jenem Stimmakrobaten, der die höchsten Höhen derart ausreizte, dass die Gläser zersprangen. Vor allem hört sich seine Stimme weniger theatralisch an als auf früheren Alben. Dennoch singt der Countertenor weiterhin Stücke in femininer Stimmlage wie den Blues „Lullaby“. Auch ist sein Hang zu überraschenden Stilwechseln zwischen Brasilien, Jazz, Humoresken, Pop und Rock wieder vorhanden, wenn auch nicht mehr so demonstrativ wie einst. Das Album wirkt einerseits fast wie eine Rückkehr zu diesen eklektizistischen Anfängen, doch zeigt er, dass er ebenso ohne große Übertreibungen Lieder so singen kann, wie es zu ihnen passt. Das hat vielleicht damit zu tun, dass die Kompositionen alle vom gleichen Musiker Zeca Baleiro stammen. Dieser ist bei uns unbekannt, in Brasilien jedoch schon gut 25 Jahre recht erfolgreich als balladesker Singer/Songwriter tätig. Sich Baleiros Musik zu widmen, hält das Album insofern zusammen. Hinzu kommt, dass Cordeiro speziell die Balladen zurückhaltend singt. Insbesondere „Sangro“, ein spanisch angehauchter Song, ist hier hervorzuheben. Cordeiro singt sie mit zusammen mit der Sängerin Tetê Espíndola, daher die zwei unterschiedlichen Timbres, und lässt gegen Ende einige ergreifende Engelsstimmen erklingen. Auch die Ballade „Sete Vidas“ trägt Cordeiro dezent und ohne Theatralik vor. Edson Cordeiro lebt schon länger in Lübeck und als Opernfan lässt er immer wieder einmal seine Liebe zur deutschen Musikkultur aufblitzen. Daher kommt dann noch der „Schwarze Vogel Saudade“ arienhaft dahergeflogen.
Anfang der 1990er Jahre startete Cordeiro kometenhaft mit einer schrillen Mischung aus Opernarien, Rock, Jazz, Gospel, MPB und sonst was. Danach verzichtete er jedoch auf eine Karriere als brasilianischer Klassik-Rocker und widmete sich immer spezielleren Projekten von Disco über Jazz zur Oper, wurde dabei aber nur noch von einem Insiderpublikum wahrgenommen. Die Besinnung auf die Stilmixtur seiner Anfänge ist stimmiger als einst und eine Rückkehr damit zu großen Bühnen wäre ihm gegönnt, denn live ist er nach wie vor ein Ereignis.
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NANA PASTORELLO
NANAUM
Eigenverlag
Brasilien, Deutschland / MPB, Brasil Jazz
Zurücklehnen nach einem anstrengenden Tag? Da ist das Album der in Deutschland lebenden brasilianischen Sängerin Nana Pastorello genau richtig. Man hört zumeist dezente Balladen mit jazzigen Arrangements von unbekannten wie auch bekannten brasilianischen Komponisten wie Chico Buarque, dessen Einfluss man manchmal merkt. Wenn eine Musikerin will, dass man ihr zuhört, dann muss sich eine schöne Melodie finden, die Begleitung den Gesang umspielen und sich nicht in zu viel Improvisationen verlieren. Genau das bekommt Pastorello mit ihrer deutsch-brasilianischen Band hin. Höhepunkt ist der Song „Estrada Do Sol“, in dem man über eine verlorene Klaviermelodie durch Muschelrasseln die Sonnenstrahlen regelrecht spüren kann. Pastorello singt im Weiteren die schmeichlerische Melodie unisono zum Klavier, umgarnt von jazzigen Weisen. Lobenswert ist zudem, dass die Texte ins Deutsche übersetzt beiliegen, sodass man merkt, welch anspruchsvolles Niveau brasilianische Songlyrik hat.
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JOÃO SELVA
Onda
Underdog Records
Brasilien, Frankreich / MPB
Leichtfüßig-fröhlicher Brasilpop aus Frankreich. Selva wirkt etwas wie Gilberto Gil in seiner Hochphase Ende der 1970er Jahre, nicht ganz so energetisch, dafür sanfter. Sein „Tambor Chamou“ wiederum könnte von einem Album der Sambafunker Trio Mocotó stammen. Tendenziell ist Selvas Musik auch funky, doch der Sound wirkt manchmal etwas dünn, da oft die Bläser fehlen oder der Bass zurückgemixt klingt. Nur bei „Banho De Mar“ macht er diesen Fehler nicht. Und wenn Selva fetzig wird wie im Disco-Titel „Amor Em Copacabana“, überzeugt er schließlich. Aus der Reihe fällt aber ausgerechnet das als Single ausgekoppelte „Rainbow Love“, das jedoch in seiner sphärischen Verträumtheit zu den stärksten Titeln des Albums gehört.
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NYRON HIGOR
Nyron Higor
Far Out Recordings
Brasilien / MPB
Nyron Higor ist ein Musiker aus dem Nordosten Brasiliens, lyrisch und experimentell zugleich, wie die letzten Neuentdeckungen des Labels Lau Ro oder Bruno Berle, der hier ebenfalls mitwirkt. Higor ist Multinstrumentalist, was auch den großen Anteil von Instrumentalstücken erklärt. So lebt „Louro Cantador“ von der auf einer retro klingenden Orgel gespielten Melodie. Dazu pfeifen und krächzen Vögel. Zurück zur Natur oder musikalisch gesehen, zurück zu einfacher Schönheit. Manchmal erinnert diese Musik an die traumhaften Improvisationen des schwedischen Keyboarders Bo Hansson aus den 1970er Jahren. Zugleich heißt es aber: In der Kürze liegt die Würze. Diese kleinen akustischen Perlen würden auch durch Überlänge ihren Reiz verlieren. „Estudo Pensado Em Você“ ist so ein Stück. Es wird von einem dumpfen Pumpen und einem Loop mit einem leise ratternden Echo getragen. Dazu eine sanfte Stimme zu dezenter Gitarre und einige Klavierakkorde: Wolke-7-Athmosphäre. Geisterhafte Frauenstimmen dann in „Maravilhalmento“ zu einer wehmütigen Orgel. Insgesamt vermittelt das Album einen wohligen Klang mit einer Mischung aus akustischen Instrumenten, elektronischen Rhythmen, dezenten Keyboardsounds und sphärischen Frauenstimmen. Die skizzenhaften Tracks bieten romantische Folksongs zum Mitsummen mit dezenten elektronischen Zutaten. Mit dieser Klangästhetik deutet sich gerade eine neue Musikergeneration an.
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