Wenn man sich wie ich als Labelmann intensiv mit der Musik Lettlands beschäftigt, kommt man an der volkstümlichen Kleidung der Baltenrepublik einfach nicht vorbei. Vor allem nicht an den Pastalas, dem traditionellen Schuhwerk der Letten. Meine Begeisterung dafür begann mit einem Geschenk, einem schwarzen Paar dieser Schuhe. Ich probierte sie sofort an und trug sie dann auch auf Festivals. Sie waren auf Anhieb superbequem und irgendwie auch sehr schick. So entstand die Idee, diese lettische Tradition auch in Deutschland bekannt zu machen.
Text: Christian Pliefke
Pastalas sind in der heutigen Zeit auf den ersten Blick etwas gewöhnungsbedürftige Schuhe, die aus einem einzigen Stück Leder hergestellt werden. Völlig exotisch sind Pastalas dann aber doch nicht, da das Gehen damit fast wie Barfußlaufen ist. Und Barfußschuhe sind ja aktuell ziemlich im Trend.
So einfach diese Lederschuhe auch aussehen mögen, umso anstrengender erscheint es, sie herzustellen. Hundert Prozent Handarbeit, viel Geschick und Kraft sind bei der Fertigung gefragt. In allen drei baltischen Ländern sind traditionelle Pastalas weitverbreitet, in Estland heißen sie Pastlads und in Litauen Nagines. Sie unterscheiden sich nur in wenigen Details. Durch Meisterkurse und Seminare gibt es auch heute noch die Möglichkeit, das Fertigen dieser besonderen Schuhe zu erlernen.
Ich habe mich diesbezüglich lange mit Mara von der kleinen Firma 100pastalas aus Lettland unterhalten. Sie und ihre Mutter Agrita Krieviņa-Siliņa lassen die Tradition nämlich weiterleben. Mara erzählte mir, dass ihre wunderbare und talentierte Mutter die Meisterin für diese Art von Lederschuhen ist. Agrita besitzt einen Doktortitel in Materialtechnologie und unterrichtet täglich Studierende in Grafikdesign an der Technischen Universität in Riga. Aber ihr Herzensanliegen sind alle Arten von Kunst, von der Landschaftsmalerei bis zur Herstellung echter Schuhe.
Pastalas haben ihren Ursprung im mittelalterlichen Lettland. Ähnliche Schuhe wurden auch in anderen Ländern gefunden. In Deutschland gab es die sogenannten Bundschuhe, die man heutzutage oft noch auf Mittelaltermärkten antrifft. Die Funde von Pastalas in Lettland reichen bis ins 9. Jahrhundert zurück, wahrscheinlich gab es sie aber schon früher. Damals trug man diese Schuhe, um die Füße zu schützen, wenn man nach draußen ging oder Feldarbeiten verrichtete. Es gab viele Handwerker wie Schuster, die Pastalas herstellten. Aber nur die wenigsten Menschen konnten sich dieses Schuhwerk leisten, da es sehr teuer war. Die meisten Letten fertigten damals ihre Pastalas selbst, für sich und ihre Familien und Freunde. Sie benutzten dabei unterschiedliche Materialien.
Wurden Pastalas früher aus mehreren kleinen, zusammengenähten Stücken hergestellt, benutzt man heutzutage ein durchgängiges rechteckiges Stück Leder. Die Schnüre, die inzwischen aus einem langen Lederband bestehen, waren damals aus Leinen. Pastalas aus besseren Materialien trug man zum Beispiel beim Kirchenbesuch oder beim Gang auf den Markt.
Agrita forscht, lehrt und lernt seit etwa zwanzig Jahren über historische Schuhe und fertigt sie. Das erste Paar Pastalas stellte sie im Jahr 2008 in einem lettischen Sommercamp von 3×3 her. 3×3 ist eine einwöchige Veranstaltung, bei der sich Familienmitglieder aller Generationen treffen und traditionelle Handwerkstechniken erlernen können. Es werden traditionelle Lieder gesungen und alte Tänze wiederbelebt. Es geht in den Sommercamps aber vor allem darum, das reiche lettische Kulturgut nicht in Vergessenheit geraten zu lassen.
Agrita brachte den Besuchern des Sommercamps gerade bei, wie man historische Stiefel näht, als eine ältere Frau hereinkam und darum bat, sie möge ihr doch zeigen, wie sie Pastalas für ihre Enkelin fertigen könne. Agrita erwiderte, dass sie das noch nie gemacht habe. Sie bat um ein altes Paar, um die Einzelheiten zu prüfen, sie auszumessen und sich dann selbst an den Pastalas zu versuchen.
Irina Kokmane probiert ihre selbstgemachten Schuhe
Foto: Beate Kokmane
Ihre Nachforschungen ergaben, dass es nicht nur eine Art von Pastalas gibt, sondern dass in den verschiedenen Regionen Lettlands sehr unterschiedliche Verarbeitungen der Schuhe existierten, was sie sehr überraschte. Sie fand ein altes Paar in einem Museum und fertigte eine genaue Kopie davon an. Es gab sogar Sandalen-Pastalas ohne Schnüre und nur mit einem Metallstück versehen, mit dem man den Schuh schließen konnte.
Mittlerweile hat Agrita rund um den Globus Meisterkurse in Sachen Pastalas abgehalten. Die meisten natürlich in Lettland, aber auch in Norwegen, Schweden, Belgien, Irland, Deutschland und sogar Australien. In den letzten beiden Jahren hat Agrita mit ihrer Tochter Mara dann ein neues Projekt ins Leben gerufen: 100pastalas.
Ich habe Mara natürlich noch jede Menge andere Dinge zu den Pastalas gefragt. Etwa, ob diese Schuhe heutzutage nur noch bei Volks- oder Tanzfesten verwendet werden? Oder ob die Letten dieses spezielle Schuhwerk auch an normalen Tagen tragen? „In Lettland sind Pastalas bei traditionellen Tänzerinnen und Tänzern aller Altersgruppen sehr beliebt, vor allem bei den Jüngeren“, berichtet Mara. Andere tragen sie zum Mittsommerfest, wenn viele ihre traditionelle Kleidung anlegen. Und nicht zuletzt: „Heutzutage suchen die Menschen einfach nach einer schnellen Möglichkeit, eine gute Zeit zu verbringen, etwas Neues und Interessantes zu machen und ein wenig mehr über ihre Wurzeln zu erfahren“, sagt Mara.
Fingerfertigkeit und Kraft ist von Nöten
Foto: 100pastala
Im Jahr 2018 konnte man bei den Feiern zu hundert Jahren lettischer Unabhängigkeit im Sommer jede Menge Menschen mit Pastalas an den Füßen auf den Straßen sehen. Ansonsten ist es eher unüblich. „Vereinzelt sieht man Exemplare mit einer dünnen Gummisohle, die dann als eine Art Sandalen Verwendung finden“, so Mara.
In Agritas Meisterklassen werden Hunderte an Farbvarianten hergestellt, so wie es die Menschen jeweils gerne tragen. Zu Jeans, Rock und Shorts kann man die bunten Schuhe anziehen. Wenn man aber welche zu traditioneller Kleidung tragen will, werden zum Beispiel blaue Pastalas nicht gerne gesehen. Da müssen es schon die naturfarbenen, braunen sein.
In den Meisterkursen lernen die Teilnehmer, ihre traditionellen Pastalas selbst mit eigenen Händen herzustellen. „Das ist wirklich eine Erfahrung, die sie nicht bereuen und vergessen werden. Und man muss nicht einmal Geschichte oder Kunst besonders lieben, um an den Kursen teilzunehmen“, kommentiert Mara lächelnd.
Die Nachfrage ist groß, und es werden entsprechend viele Kurse angeboten. Warum wollen so viele Menschen lernen, ihre eigenen Pastalas zu machen? „Weil es für die meisten Menschen unglaublich ist, dass fast jeder mit etwas Hilfe und Anleitung in etwa drei Stunden sein eigenes Paar Schuhe herstellen kann“, berichtet Mara. Aber woher kommt dieses Bedürfnis? In Lettland seien viele Arten von Handwerkskursen sehr beliebt, das beschränke sich nicht auf Pastalas, meint Mara. „Ich denke, dass die Menschen heutzutage so viel mit Elektronik zu tun haben beziehungsweise damit beschäftigt sind, dass sie einfach ihren Kopf freibekommen wollen und gerne mit den Händen Neues erschaffen möchten“, lautet ihre Schlussfolgerung. Natürlich gab es in Lettland zu den Hundertjahrfeiern im Jahr 2018 sehr viele Angebote. „Aber jetzt besuchen die Kurse meist Leute, die ein tieferes Interesse an Geschichte und Handwerk haben“, zieht Mara Bilanz.
Vor einigen Wochen stieß ich im Internet auf Irina Kokmane, die farbige Pastalas herstellt. Was bei ihr als Interesse und Hobby begann, wurde schließlich zu einer kleinen Firma. „Die ersten Pastalas habe ich vor etwa zwei Jahren gefertigt“ erinnert sie sich. Am 24. Juni feiern die Letten ihren Nationalfeiertag. „Meine Familie und ich wollten dazu unsere Nationalkleidung tragen, natürlich auch Pastalas. Aber ich wollte keine traditionellen in hellbrauner Farbe. Ich wollte etwas anderes, etwas Interessantes“, blickt Irina zurück.
Sie suchte im Netz nach farbigen Exemplaren und stieß dann auf die Website von 100pastalas. „Ich rief Agrita Krieviņa-Siliņa an und sagte, dass ich gerne an einem Workshop teilnehmen würde“, erzählt Irina. Gesagt, getan. Nach dem Kurs war sie in der Lage, Pastalas selbst herzustellen. So fertigte sie wunderbare Geschenke für Familie und Freunde.
Fotos ihrer selbst gemachten Pastalas veröffentlichte Irina bei Facebook und Instagram. „Schon nach wenigen Tagen mailten mich völlig fremde Menschen an und fragten mich, ob ich Pastalas für sie herstellen kann“, blickt sie zurück. In den vergangenen zwei Jahren hat sie nun etwa 2.000 farbige Pastalas gefertigt. Meist tut sie das allein, aber manchmal helfen auch ihre Tochter oder Freunde. „Viele finden mich über Facebook oder Instagram. Inzwischen verkaufen auch einige Geschäfte in Lettland meine Schuhe“, freut sich Irina.
In den vergangenen drei bis vier Jahren ist in Lettland die Zahl der Menschen rasant gestiegen, die gerne diese traditionelle Form der Fußbekleidung tragen. Kamen Pastalas zunächst nur bei den traditionellen Tänzen zum Einsatz, so verwenden die Menschen sie heute wieder an den verschiedenen Feiertagen, zu Festivals oder Hochzeiten. Für Letten, die über den ganzen Globus verstreut leben, sind die Schuhe ein Symbol für ihre Heimat, eine Erinnerung an die eigene Herkunft.
Wer selbst einmal Pastalas fertigen will, kann sich unter www.facebook.com/100pastalas informieren. Die Mailadresse lautet 100pastalas@gmail.com. Pastalas von Irina Kokmane gibt es im deutschsprachigem Raum bei www.cpl-musicshop.de. Und noch ein letzter Hinweis: Es wird empfohlen, Pastalas bei trockenem Wetter zu tragen, damit sie nicht ihre Form und Farbe verlieren. Wenn sie dennoch nass werden, sollte man sie langsam trocknen und mit Papier ausstopfen.
Aufmacher-Foto:
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