Wenn es um Akkordeonmusik geht, dann kommen den meisten Folkmusikfans nicht sofort die Begriffe „innovativ“ und „frisch“ in den Sinn. Die estnische Akkordeonistin Tuulikki Bartosik hat sich vorgenommen, die leicht verstaubte Wahrnehmung des Instrumentes zu verändern. Sie verbindet traditionelle Klänge mit modernen Lebenswelten. Bartosik war die Erste, die estnische Volkslieder für das Knopfakkordeon adaptierte. Obwohl die Musikerin im Städtchen Rakvere im Norden Estlands geboren wurde und im Laufe ihrer Karriere häufig mit internationalen Kolleginnen und Kollegen zusammengearbeitet hat, um ihren künstlerischen Horizont zu erweitern, ist sie tief in der Kultur und Geschichte der südostestnischen Region Võrumaa verwurzelt. Tuulikki Bartosik hat erkannt, dass musikalische Traditionen mit neuer Energie ins Hier und Jetzt gebracht werden müssen, um das junge Publikum von heute zu erreichen.
Text: Eva-Maria Vochazer
Die junge Akkordeonistin nimmt in ihrem musikalischen Schaffen Elemente traditioneller estnischer Volkslieder auf und verbindet diese auf kreative und einfühlsame Weise mit eigenen Melodien. Was die Künstlerin auszeichnet: Sie lässt der Musik Raum und Zeit zur Entwicklung. Sie macht aus wenig viel. Mitunter kommen Assoziationen zu Minimal Music auf, wenn man ihren Alben lauscht.
Tuulikki Bartosik verfügt über einen soliden Hintergrund in traditioneller Volksmusik. Ihren Mastertitel im Bereich „Traditionelle Musik“ erwarb sie an der renommierten Sibelius-Akademie in Helsinki. Bereits in jungen Jahren entdeckte sie ihre Liebe zur populären Musik, als sie sich mit dem Beginn der estnischen Unabhängigkeit von Russland Anfang der Neunzigerjahre für Heavy-Metal-Sounds begeisterte. Zudem ist sie bekennender Queen-Fan! ‘
Auf die Frage, ob sie Folkmusik spiele, hat Bartosik eine ungewöhnliche Antwort parat: „Ich bevorzuge den Begriff ‚Original Music‘. Es ist meine Musik, es ist meine Tradition. Die Wurzeln liegen in Võrumaa. Aber ich lebe in unterschiedlichen Kulturen, und ich reise. Das wirkt sich auch auf die Musik aus.“
Die estnische Akkordeonistin wird inzwischen auch im Ausland als kulturelle Botschafterin der kleinen Baltenrepublik wahrgenommen. Im Oktober 2018 war sie in Japan auf Tour. Davor spielte sie beim Celtic-Connections-Festival in Glasgow und vertrat ihr Land beim Euroradio Folk Festival in Moskau. 2017 begleitete sie die estnische Präsidentin Kersti Kaljulaid bei deren Staatsbesuch in Finnland anlässlich der dortigen Feiern zum hundertsten Jahrestag der Unabhängigkeit Suomis. Bei den Celtic Connections hob sie ein Projekt für Akkordeonistinnen aus der Taufe, das den schönen Namen Accordionesse trägt. Tuulikki Bartosik musiziert hier gemeinsam mit Hannah James und Karen Tweed aus England, Mairearad Green aus Schottland und Teija Niku aus Finnland.
Bartosik erforscht mit Vorliebe, wie sich ein Akkordeon an verschiedene Umgebungen anpassen kann. Dabei lässt sie sich von belebten Straßen ebenso inspirieren wie von verlassenen Höhlen oder ihren geliebten tiefen Wäldern in Südestland. In ihrer Heimat ist die Musikerin auch bekannt dafür, dass sie sich gerne kreativ mit ihren estnischen Kolleginnen und Kollegen austauscht. So hat sie bereits mit der Sängerin und Komponistin Mari Kalkun und dem eigenwilligen estnischen Freak-Folk-Projekt Pastacas von Ramo Teder zusammengearbeitet.
Auf ihrem zweiten Soloalbum Tempest In A Teapot (2019) geht es der Musikerin und Komponistin um die kleinen Dinge, die manchmal ganz groß werden. „Mein neues Album ist eine Geschichte über mich, über meine Wurzeln und darüber, wo ich jetzt stehe, über die Sehnsucht nach Natur und Freunden und darüber, wie ich mich selbst als Individuum in die Natur einfüge. Es geht um den Wunsch nach einem Platz in der Welt und auch in der Welt der Musik. Ich hoffe, dass das Album den Menschen dabei hilft, über ihr eigenes Leben nachzudenken und sich selbst darin wiederzufinden“, erzählt sie zum Hintergrund.
Tuulikki Bartosik erforscht mit Vorliebe, wie sich ein Akkordeon an verschiedene Umgebungen anpasst.
Foto: Kroot Tarkmeel
Auf ihrem bisherigen künstlerischen Weg hat Tuulikki Bartosik vor allem eines gelernt: Wenn man seine Traditionen pflegen will, dann muss man auf Reisen gehen und auch andere Menschen und Kulturen willkommen heißen. Und so ist es kein Zufall, dass die unglaubliche Odyssee einer Gruppe von Esten nach dem Zweiten Weltkrieg einen der Höhepunkte auf Tempest In A Teapot bildet. Estland gehörte zwischen 1939 und 1945 zu den so genannten „Bloodlands“ die am meisten unter der wechselnden russischen und deutschen Besatzung zu leiden hatten. Zahlreiche Menschen wurden verschleppt und ermordet. Der Song „Setting Sail For Freedom“ erzählt die ergreifende und wahre Geschichte jener kleinen Gruppe von Esten, die im Juli 1945 auf einem elf Meter langen Vergnügungsboot vor den sowjetischen Besatzern flüchtete und sich auf den langen Weg nach Amerika machte. Produziert hat das Album der renommierte schwedischen Jazzmusiker Jonas Knutsson, der schon in den Achtzigerjahren Elemente der schwedischen Volksmusik, traditionelle afrikanische Klänge und Klassikelemente in seine Kompositionen integrierte.
Bartosik hat hier jeden Ton selbst aufgenommen und lässt mit ihrem Akkordeon ein ganzes Orchester entstehen. „Traditionen reisen über das Meer“, betont sie. „Denn das Wasser bringt uns zusammen, um ein positives Gegengewicht zur Angst und zu den vielen Ungerechtigkeiten auf der Welt zu schaffen.“. Und um durch die Musik weibliche Energie zu verströmen! „Setting Sail For Freedom“ erzählt die Geschichte einer Suche nach einem neuen Zuhause. Aber der Song thematisiert auch, dass man seine Traditionen nicht isolieren darf, wenn man sie pflegen möchte.
Wer nun glaubt, dass es auf Tempest In A Teapot nur um epische und schicksalshafte Reisen geht, hat sich getäuscht. Der mitreißende Song „Forgotten Village Polka/ Mälutuguse Polka“ verbeugt sich voller Dankbarkeit vor dem großen estnischen Akkordeonisten Karl Kikas. „Josefin´s Lullaby“ Josefini Hällilul“ schrieb die Musikerin zum siebten Geburtstag einer kleinen Verwandten. Das Album endet schließlich mit dem Track „Dear Friends/Orukalda Waltz/ Oh Sõbra/Orukalda Valss“, bei dem Bartosik die elfsaitige estnische Kantele spielt, ein zitherähnliches Instrument. Der Text stammt vom Dichter Artur Adson, der diesen in der südestnischen Sprache Võro schrieb. Er verließ das von der Sowjetunion besetzte Estland im Jahr 1944 und konnte nie zurückkehren.
Tempest In A Teapot bringt Tuulikki Bartosiks Suche nach einer individuellen Ausdrucksform auf den Punkt. Eine Suche, die sich auch im Artwork des Albums widerspiegelt. „Die Fische haben eine Botschaft“, lacht sie. „Fische können überallhin schwimmen. Niemand kann ihnen sagen, wohin sie schwimmen sollen und wohin nicht. Manchmal fühle ich mich wie ein Fisch, der dahin schwimmt, wohin es ihn zieht.“ Dann wird Künstlerin ernst und sagt: „Es gibt viele verschiedene Fische auf der Welt. Das ist die Botschaft.“
Aufmacherfoto:
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