Ulla Pirttijärvi

Mit Ulla in die Tiefen des Joik

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7. Juni 2023

Lesezeit: 7 Minute(n)

Ulla Pirttijärvi ist eine führende Vertreterin des samischen Joik. Sie stammt aus einem kleinen Dorf im hohen Norden Finnlands an der Grenze zu Norwegen und kann auf eine jahrzehntelange Karriere zurückblicken. Ihr letztes Album – im Trio Áššu – erschien 2019 und wurde mit dem Preis der deutschen Schallplattenkritik ausgezeichnet. Ein Jahr zuvor veröffentlichte sie mit ihrer Tochter Hildá Länsman eine Platte als Duo Solju. Beides sind Aufnahmen, die einen hervorragen Zugang zur Vokalkunst der Samen in Nordeuropa bieten.
Text: Willi Klopottek

Der Joik ist immer noch ein Geheimtipp, was kein Wunder ist, denn von den mehreren Hundert Joikschallplatten, die bisher erschienen sind, sind nur eine Handvoll außerhalb der Sámicommunity und Skandinaviens vertrieben worden. Einen international bekannten Namen gibt es immerhin. Die norwegische Sängerin Mari Boine ist seit 31 Jahren das internationale Aushängeschild samischer Kultur; allerdings wurden ihre Platten oft als Jazz vermarktet. Boine hatte auch ihren Anteil daran, dass Ulla Pirttijärvi ihre Laufbahn als Musikerin vor mehr als 29 Jahren begann, als sie einen Mädchenchor, dem Ulla angehörte, unter ihre Fittiche nahm. Von Mari Boine abgesehen fristet die musikalische Kultur der Samen zu Unrecht ein Schattendasein in der internationalen Musikszene.

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Ulla Pirttijärvi

Foto: Frode Fjelheim, vuelie.com

Allerdings macht es der Joik nicht eingeweihten Musikfreundinnen und -freunden auch nicht ganz leicht, Zugang zu ihm zu finden, denn eingängige Liedstrukturen und vertraute Melodieformen sind hier nicht die Regel. Wenn man sich allerdings darauf einlässt und ein paar Hintergründe erfährt, eröffnen sich ganz neue Horizonte. Der Joik lässt sich nur unzureichend mit dem Begriff „Gesang“ umschreiben, denn er ist eine vokale Ausdrucks- und Kommunikationsform, die tief aus dem Inneren der Menschen kommt, die sie praktizieren, und die viel Improvisation erlaubt. Der häufig gehörte Vergleich mit dem Jodeln trifft den Kern nicht. Richtig ist, dass es im Joik große, gleitende Intervallsprünge gibt, oft verbunden mit gutturalen Lauten und großer Dynamik. Ein Joik kann Text enthalten, besteht aber zu einem großen Teil aus textfreien Passagen. Joiken hat immer einen Bezug: Man kann zum Beispiel über einen Fluss, die Gestirne, einen Baum, ein Tier oder einen Menschen joiken. Ein Kind bekommt einen Joik, der dann zu ihm gehört wie sein Name. Sámi definieren es allerdings genauer, denn sie sagen, dass man eine Person joikt und nicht „über“ sie joikt. Jedenfalls ist Joiken eine hoch emotionale Ausdrucksform, die von den Lebensumständen der Sámi nicht zu trennen ist.

Dass der Joik so einzigartig ist, hängt damit zusammen, dass die Samen vor Jahrtausenden – lange vor indogermanischen Völkern – wohl aus dem nordasiatischen Raum kommend Nordeuropa besiedelten. Sie brachten von dort ihre eigene Sprache mit, und ihre Schamanen verwendeten Rahmentrommeln für ihre Gesänge. Als dänische und schwedische Herrscher ihren Machtbereich ausdehnten, drängten sie die Sámi aus ihrem angestammten Lebensraum. Für eindringende christliche Missionare waren sie mit dem Teufel verbundene Heiden, deren Kultur und Identität es zu vernichten galt. Bis heute gibt es rassistische Diskriminierung derjenigen, die man abschätzig als „Lappen“ bezeichnet. Das Sámivolk, dem nicht mehr als 90.000 bis 140.000 Menschen angehören, lebt heute über Russland, Finnland, Norwegen und Schweden verstreut. Seit Jahrzehnten gibt es allerdings eine Wiederbelebung seiner kulturellen und politischen Identität, und parallel dazu erlebt der Joik seit den Sechzigerjahren ein Revival.

Ulda

Foto: Minna Saastamoinen, Studio Borga, ulda.fi

Joiken war ursprünglich eine rein vokale Musikform, die höchstens von einer Rahmentrommel begleitet wurde. Das gibt es immer noch, aber moderne Musikerinnen und Musiker verbinden ihn mit ganz verschiedenen Instrumenten und anderen Stilen. Es gibt elektronischen Joik, Joik mit Rockbegleitung, Jazz-Joik, Hip-Hop-Joik und sogar Pop-Joik. Auch in Ulla Pirttijärvis Karriere kann man ganz unterschiedliche Joikvariationen finden. Sie stammt aus Angeli, einem finnischen Sámidörfchen mit einer Handvoll Einwohner, die alle miteinander verwandt sind. Die nächste Schule ist sechzig Kilometer entfernt. Von einem Onkel lernt sie schon als Kind zu joiken. Viele Möglichkeiten zum Zeitvertreib gibt es nicht, und so tun sich viele Kinder ihres Heimatortes zu einem Joikchor zusammen, der es mit Unterstützung der bereits erwähnten Mari Boine zu einer Kassettenaufnahme bringt und regionale Bekanntheit erlangt. Ihre erste CD, Dolla, nimmt Ulla Pirttijärvi 1992 zusammen mit zwei anderen jungen Frauen aus ihrem Dorf unter dem Namen Angelin Tytöt auf. Sie enthält eingängige Joiks, die überwiegend a cappella eingespielt wurden. Das Trio wird bald darauf zum Duo und entwickelt – ohne Ulla – unter dem Namen Angelit einen elektrischen Musikstil.

Ulla Pirttijärvi arbeitet währenddessen an einem 1996 preisgekrönten Buch und einem Album für Kinder, um ihnen einen Einstieg in den traditionellen Vokalstil zu ermöglichen. 1997 schließlich erscheint ihr erste Veröffentlichung in Zusammenarbeit mit Frode Fjellheim, Ruošša Eanan. Der norwegische Sámi Fjellheim hatte sich schon drei Jahre zuvor mit seinem Jazz-Joik-Ensemble einen Namen als Innovator gemacht, als er die Gesangsart mit Jazzrock zusammenbrachte. Als Produzent und Keyboarder hilft er Pirttijärvi, einen Stil zu entwickeln, bei dem ihr traditionell geprägter Joik das Zentrum bildet und von Percussion, Bass, Gitarre, Cello und Synthesizerklängen getragen wird. Das Album ist von atmosphärischer Tiefe und von einer solchen klanglichen Dichte geprägt, dass man von einem Wall of Sound sprechen kann. Pirttijärvi zelebriert hier mit ihrer außergewöhnlichen Stimme mal rauen, ursprünglichen Joik, mal berührende, zarte Kompositionen wie das liebevolle Stück für ihre damals noch ganz junge Tochter Hildá.

Solju

Foto: Marja Helander

In den folgenden Jahren arbeiten Pirttijärvi und Fjellheim weiter zusammen. 2002 erscheint Máttaráhku Askái – In Our Foremothers’ Arms, ein Album, das das Konzept der ersten gemeinsamen Produktion erfolgreich weiterentwickelt und das es in die World Music Charts Europe schafft. An Frode Fjellheims Veröffentlichung Aejlies Gaaltije – The Sacred Source, die 2004 herauskommt, ist neben einigen anderen Sängerinnen auch Ulla Pirttijärvi beteiligt. Ein weiteres Mal gehen beide ins Studio, um Áibbašeabmi aufzunehmen – das Pirttijärvi-Album erscheint 2008. Darauf findet sich ein Joik mit dem Titel „Gumppiid Meanut – The Wolves“, bei dem die Sängerin furchteinflößend überzeugend das Heulen von Wölfen imitiert. Ganz überraschend ist das Stück „Prudenciana“, ein Joik für ein Mädchen aus Tansania, in dem auch Sängerinnen von dort und Marimbaklänge zu hören sind. Der Hintergrund: Ulla Pirttijärvi besuchte das ostafrikanische Land einige Jahre zuvor im Rahmen eines Kulturprojektes der finnischen Regierung und war offenbar sehr beeindruckt.

Sowieso sind viele samische Musikerinnen und Musiker sehr aufgeschlossen für Veränderungen und stehen doch mit beiden Beinen in der Tradition des Joik. So auch Ulla Pirttijärvi, die für ein Album mit Wimme zusammenarbeitet. Wimme Saari ist ein weiteres Urgestein der finnischen Sámiszene, der seinen Joik häufig mit den Klängen des experimentell-schrägen Klarinettisten Tapani Rinne verbindet. Pirttijärvi ist auf etlichen Stücken von Wimmes Platte Mun zu hören, die 2009 veröffentlicht wird und ein ganz anderes Feeling aufweist als das, was sie zuvor aufgenommen hat. Bereits 2003 wirkte sie an einem Stück von Tapani Rinnes Band Rinneradio mit.

Áššu

Foto: Ihne Pedersen

Schließlich zieht es Ulla Pirttijärvi zurück zu minimalistischeren Tönen. Drei Jahre lässt sie sich Zeit, bis sie mit ihrer neuen Gruppe Ulda ein Album mit gleichnamigem Titel herausbringt. Dabei handelt es sich um ein Trio, dem außer der Sängerin der Bassklarinettist, Flötenspieler und Percussionist Mikko Vanhasalo angehört sowie der breit aufgestellte Saitenspezialist Marko Jouste, der unter anderem Mandoline, die arabische Laute Oud und die iranische Spießgeige Kamantsche einsetzt. Es ist ein sehr ruhiges Album, bei dem auch überrascht, welch ganz andere Nuancen Pirttijärvi mit dieser sparsamen Instrumentierung drei Stücken entlockt, die sie vorher bereits mit Fjellheim aufgenommen hatte. 2016 erscheint eine zweite Ulda-Veröffentlichung mit dem Titel Roijk, einer Verbindung der Worte „Rock“ und Joik. Hier geht es ebenfalls durchaus ruhig zu, aber bei einigen Stücken wird anständig gerockt, was auch dem neu hinzugenommenen Schlagzeuger Ari Isotalo zu verdanken ist. Ein drittes Ulda-Album für 2018 wird geplant, kommt aber nicht auf den Markt.

Stattdessen erscheint in jenem Jahr das Album Ođđa Áigodat – New Times des Duos Solju, hinter dem Ulla Pirttijärvi und ihre Tochter Hildá Länsman stecken. Hildá hat schon in jungen Jahren auf der einen oder anderen Aufnahme ihrer Mutter mitgewirkt, hier aber agiert die zu dem Zeitpunkt 25-Jährige, die ein Jahr später ein eigenes Album mit ihrem Duo Vildá veröffentlichen wird, als gleichberechtigte Vokalpartnerin. Es ist hoch interessant zu hören, wie sich die beiden Joikerinnen unterschiedlicher Generationen ergänzen und gleichzeitig Spannung aufbauen, denn natürlich hat die Tochter ihren eigenen Zugang zur Tradition. So hat sich Länsman mit traditionellen bulgarischen Gesangsstilen auseinandergesetzt und plant für 2021 ein Album mit einer Rockband. Das gemeinsame Album von Mutter und Tochter sticht unter anderem dadurch heraus, dass die Streicher des Czech National Symphony Orchestra mitwirken, dass ein Synthesizer eingesetzt wird und ostasiatischer Kehlkopfgesang zu hören ist.

Ein Jahr nach Erscheinen des Solju-Albums überrascht Pirttijärvi erneut, und zwar mit einer Platte des Trios Áššu mit gleichnamigem Titel. Neben Pirttijärvi vervollständigen der Percussionist Olav Torget und Harald Skullerud, der eine effektgeladene, filigrane Gitarre spielt, die Formation. Hinzu kommen afrikanische Instrumente, wie das Kalimba-Daumenklavier und die Konting-Laute. Die Begleitung ist folglich zurückgenommen und die Stimmung ruhig. Pirttijärvi hat dieses Mal Joiks ausgesucht, die von Personen aus ihrem engeren Familienkreis und von Freunden stammen. Sie kehrt hier also zu ihren Wurzeln zurück und stellt dies in einen minimalistischen, aber innovativen instrumentellen Rahmen.

Ganz unabhängig davon, in welcher Form Ulla Pirttijärvi joikt, Markenzeichen bleibt ihre unverwechselbare Stimme. Es ist ihre ganz besondere Fähigkeit, innerhalb von Sekunden von intimer Nähe zu explosiver Expressivität zu wechseln und dabei jeder einzelnen Silbe Bedeutung zu verleihen, ohne dass der Gesangsfluss beeinträchtigt wird. Die New-Age-Szene hat mehrfach versucht, Sámimusik für ihre Zwecke zu missbrauchen bis hin zu offensichtlichen Plagiaten, doch diese hat mit derartiger, konstruierter Esoterik nichts zu tun. Vielmehr ist sie ungekünstelter Ausdruck eines uralten, authentischen Zugangs zu Natur und Innerlichkeit in einer Form von Emotionalität, die Menschen, die in industrialisierten Gesellschaften aufgewachsen sind, kaum noch vertraut ist. Mit der Musik Ulla Pirttijärvis wird man bestens in diese erstaunliche Welt eingeführt.

www.ulda.fi www.solju.fi http://bafesfactory.fi/assu


Aufmacherfoto:

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