Wardruna

Der Höhenflug des weißen Raben

19. April 2023

Lesezeit: 5 Minute(n)

Mit einigen Monaten Verspätung haben Wardruna im Januar endlich ihr sehnsüchtig erwartetes fünftes Studioalbum seit der Bandgründung im Jahr 2003 vorgelegt. Kvitravn markiert für den Primus des Nordic Folk nach dem akustischen Zwischenspiel Skald einen Neuanfang für die Norweger. Folk Galore sprach mit Bandkopf Einar Selvik über den „weißen Raben“.
Text: Gunnar Sauermann

„Wir leben in verrückten Zeiten“, eröffnet Einar Selvik das Gespräch mit einem Seufzer. „Zuerst haben sich Jahre der Planung in Rauch aufgelöst, und jetzt gehen die neuen Termine auch den Bach runter. Es ist zum Verzweifeln. Doch wir müssen das Beste aus der Notlage machen.“ Die schwere Krise des Kulturbetriebs aufgrund der globalen Pandemie macht auch vor der Speerspitze des Nordic Folk nicht halt. Und obwohl ihre Tour in immer weitere Ferne rückt, wollten die Norweger ihr fünftes Album Kvitravn nicht erneut verschieben.

Vom Mythos zum Menschen

Mit Kvitravn betritt Selvik auf musikalischer wie lyrischer Ebene Neuland. Nach Abschluss der Runaljod-Trilogie Gap Var Ginnunga (2009), Yggdrasil (2013) und dem finalen Ragnarok (2016) hatte das Projekt Wardruna seine Gründungsmission prinzipiell erfüllt. Diese bestand aus Meditationen über die 24 Runen des älteren Futhark in Ton und Wort. Dabei verknüpfte der Musiker das nach den ersten Buchstaben seiner ersten Zeichenreihe benannte germanische Runenalphabet mit nordischen Mythen, die meist in isländischen Quellen des Mittelalters überliefert sind. Selvik ging bei seiner Arbeit mit vollem Körpereinsatz ans Werk. So trommelte er beispielsweise im Wald auf Bäumen oder stieg barfuß in einen eiskalten Winterfluss, um dort einen Text über „Not“ einzusingen.

Im Jahr 2018 folgte das vierte Album, Skald. Dieses basiert auf den akustischen Soloauftritten des Norwegers, die oft die pädagogische Seite von Wardruna betonen. In diesen stellt Selvik unter anderem seine historischen Instrumente vor und führt in die nordischen Mythen und ihre Quellen ein. Der Musiker selbst spricht oft davon, dass er „Samen sät“. „Nach dem Zweiten Weltkrieg wagte es kaum jemand in Norwegen, sich außerhalb der Wissenschaft mit der alten Geschichte unseres Landes zu beschäftigen“, erklärt Selvik. „Wir haben durchaus einen Beitrag geleistet, dass Interesse daran wieder zu wecken, und arbeiten dazu auch mit Akademikern zusammen. So eignen sich die klanglichen Möglichkeiten rekonstruierter Instrumente beispielsweit gut für praktische musikalische Experimente.“

Kvitravn

Vom gedanklichen Rahmen der Runen gelöst, bot sich für das aktuelle Album Kvitravn eine zwanglose Neuorientierung an. „Ich habe die thematische Freiheit genutzt, um persönlicher zu werden und mehr aus der Ich-Perspektive zu erzählen“, stimmt der Percussionist zu. „Das neue Album fällt weniger mythisch, dafür aber menschlicher aus. Musikalisch stellt es die Summe meiner Erfahrungen dar und geht daher sowohl einen Schritt voran, aber auch in die Breite. Die Spannweite reicht von primitiven, einfachsten Rhythmen bis zu vielschichtigen, cineastischen Momenten mit komplexen Percussionmustern.“

Ein Zugang zum neuen Album führt über dessen Titel Kvitravn, was übersetzt „weißer Rabe“ heißt. Selvik fühlt eine nahezu „totemische Verbindung“ zu den klugen, normalerweise schwarzen Vögeln und dem mit ihnen verbundenen Symbolismus als Boten der Götter, listenreiche Beschützer und Träger der Toten. „Die Farbe Weiß ist ein universell verstandenes Merkmal für heilige Tiere“, ergänzt der Künstler. „Sie wird oft mit Erleuchtung und Prophezeiungen verbunden und steht für Hoffnung und den Aufruf zur Veränderung.“ Selvik ist es wichtig, dass der Albumtitel nicht direkt auf seinen Künstlernamen Kvitrafn bezogen wird, weshalb er auch eine andere Schreibweise gewählt hat. Ein Grund für die gewollte Distanz könnte in seiner Vergangenheit liegen.

Von Satan zu den Sámi

Im Februar 2004 bricht in einem Fernsehstudio im polnischen Krakau die Hölle aus. An vier Holzkreuzen hängen jeweils zwei blutbeschmierte nackte Frauen und Männer. Ihre Köpfe sind in schwarze Säcke gehüllt. Auf Pflöcke und Stacheldraht gespießte Schafsköpfe verbreiten süßlichen Verwesungsgeruch. In Leder und stählerne Stacheln gehüllte Gestalten mit leichenblasser Bemalung hämmern infernalischen Black Metal aus dem Bühnennebel. Die Norweger Gorgoroth lösen einmal mehr eine Kontroverse aus. Am Schlagzeug sitzt Einar Selvik unter seinem Künstlernamen Kvitrafn. „Meine Zeit im Metal gehört ebenso zu meinem musikalischen Werdegang wie Klassik und traditionelle Musik in meinem Elternhaus“, gibt der Musiker selbstbewusst zu Protokoll. „Zu diesem Zeitpunkt war meine Zusammenarbeit mit Gorgoroth aber bereits eher professioneller als persönlicher Natur.“ Der Schlagzeuger wollte sich lieber seiner Leidenschaft für nordische Themen und Runen widmen, worin ihn der ebenso legendäre wie umstrittene Gorgoroth-Frontmann Kristian Espedalalias Gaahlnoch ausdrücklich bestärkte.

Kvitravn

Zu den beiden Schwarzmetallern aus Bergen gesellte sich die lokale Sängerin Lindy-Fay Hella. Dieses Trio bildete im Jahr 2005 die Keimzelle von Wardruna, wobei von der Idee bis zum ersten Auftritt noch viele Jahre vergingen. Mit Hella kam neben einer weiblichen Stimme ein weiterer kultureller Vektor in die Band. „Lindy stammt aus einer Sámifamilie“, erläutert Einar Selvik. „Ihr kulturelles Erbe lässt sich sowohl in ihrem musikalischen Ausdruck als auch in ihrem Gesang klar erkennen.“ Für Einar ist der Einfluss der Sámikultur nach eigener Aussage wichtiger für Wardruna als beispielweise die sogenannte Wikingerzeit. Und obwohl sich der Musiker nur ungerne politisch äußert, hat er sich wiederholt für die Rechte der nördlichen Bevölkerung eingesetzt. Das Image Wardrunas ist dennoch eng mit den räuberischen, abenteuerlustigen Menschen des nordischen Frühmittelalters verbunden, die aktuell unter dem Namen „Wikinger“ populär sind. Auch hier hilft ein Blick in die Vergangenheit der Band.

Die Tränen der Wikingersöhne

Am 9. April des Jahres 2009 bot die Wikingerschiffshalle in Oslo einen unerwarteten Anblick. Vor dem mehr als tausend Jahre alten Gokstad-Schiff kullerten andächtig lauschenden, bärtigen Männern in rekonstruierten mittelalterlichen Trachten dicke Tränen aus den Augen – anwesende Frauen erwiesen sich als härter im Nehmen. Der Grund: Wardruna gaben vor dieser fantastischen Kulisse ihr legendäres erstes Konzert. „Wir haben durch diesen Auftritt viel über die Macht des Kontexts für unsere Musik gelernt“, sagt Selvik. „Wir lehnen noch immer die meisten Konzertangebote ab, weil der Rahmen stimmen muss.“

Wardruna

Foto: Arne Beck

Eine weitere Verbindung zum populären Normannenthema stellt die TV-Serie Vikings dar, an deren Soundtrack Einar Selvik und Wardruna beteiligt gewesen sind. Der Norweger hatte sogar schauspielerische Auftritte darin. „Die Verbindung zu Vikings hat uns sicherlich nicht geschadet“, stellt der Musiker trocken fest. „Aber wir haben beispielsweise die Queen Elizabeth Hall in London schon vor der Serie ausverkauft und stehen auf eigenen Beinen. Wir sind definitiv nie eine ‚Wikinger‘-Band gewesen, und ich vermeide den Begriff bewusst.“

Ein weiterer Auftritt macht die Bandbreite von Wardruna deutlich. Nachdem die Formation auf Einladung des norwegischen Königspaars in einer privaten Audienz aufgespielt hatte, folgten im August 2016 zwei Auftritte in der royalen mittelalterlichen Håkonshalle ihrer Heimatstadt Bergen. Gleich zur Eröffnung überraschten Wardruna mit den Nachbauten zweier bronzezeitlicher Luren. „Ich bediene mich sowohl bei ethnomusikalischen Studien und der Musikarchäologie als auch bei den isländischen Rímur und natürlich besonders bei der traditionellen Musik Norwegens“, betont Selvik. „Ohne die lebendige Folkloretradition, mit der ich aufgewachsen bin, gäbe es Wardruna nicht.“

www.wardruna.com

Aufmacherfoto:

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