Tautumeitas zelebrieren Traditionspflege auf die coole Art

Unbeschreiblich weibliche A-capella-Sounds aus Lettland

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21. April 2023

Lesezeit: 5 Minute(n)

Wir blicken zurück in die Vergangenheit, aber voller Offenheit und Neugier! Die sechs lettischen Vokalartistinnen von Tautumeitas zeigen auf ihrem A-cappella-Album Dziesmas No Aulejas – Songs From Auleja, dass Traditionspflege heutzutage superlebendig sein kann. Und ziemlich cool obendrein. Tautumeitas haben verstanden, dass sich tief in der Provinz überraschende musikalische Schätze heben lassen. Die jungen Frauen haben sich ins Dörflein Auleja hart an der weißrussischen Grenze aufgemacht, wo sich der uralte lettische Gesangsstil der Bolsi bis zum heutigen Tag erhalten hat.
Text: Eva-Maria Vochazer

Tautumeitas (auf Deutsch sinngemäß: „Frauen in der Nationaltracht“) sind ein stimmgewaltiges Frauen-Vokalensemble aus der Baltenrepublik Lettland, das sich der reichen Gesangstradition seiner baltischen Heimat tief verbunden fühlt. Seit dem Jahr 2015 singen die sechs Frauen gemeinsam. Vier der Mitglieder haben Ethnomusikologie an der lettischen Musikakademie in Riga studiert.

Die jungen Musikerinnen haben sich für Songs From Auleja auf Spurensuche in ihrer Heimat begeben. Sie sind von Riga aus über 250 Kilometer nach Südosten nach Auleja gereist. Dort lebt und wirkt das Gesangsensemble Auleja Sivas, das zunächst nur aus vier Sängerinnen bestand und bereits im Jahr 1940 gegründet wurde. Eine fünfte Sängerin stieß nach einigen Jahren dazu. Lange Zeit akzeptierten die Frauen keine weiteren Mitglieder, obwohl durchaus reges Interesse bestand. Heute besteht Auleja Sivas bereits in der dritten Generation, und Marija Vasilveska, eine Sängerin der zweiten Generation, ist immer noch aktiv mit dabei. Tautumeitas wollen mit ihrem A-cappella-Album dazu beitragen, dass die von Auleja Sivas aufrechterhaltene Tradition in Lettland weiter lebendig bleibt.

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Vor dem Zweiten Weltkrieg hatte Auleja in der historischen Region Lettgallen noch über 7.000 Einwohner und war ein ausgesprochen multikultureller Ort. Letten, Litauer, Polen, Weißrussen und Russen lebten meist friedlich zusammen. Heute wohnen in Auleja nur noch knapp 500 Menschen. Landflucht und die zahlreichen politischen Umwälzungen seit Ausbruch des Zweiten Weltkrieges haben zu dieser Entwicklung beigetragen.

„Es sind vor allem die anmutigen, luftigen Melodien und der sehr besondere mehrstimmige Gesang, der die Auleja-Tradition innerhalb Lettlands zu etwas ganz Besonderem macht“, sagt Tautumeitas-„Chefin“ Asnate Rancāne. Sie kam bereits während ihres Studiums in Kontakt mit den Auleja-Sängerinnen, das sie im Jahr 2016 mit einer Bachelorarbeit abschloss. Ihr Thema: Die Bolsi aus Auleja! Somit bestanden bereits vor dem „Arbeitsbesuch“ der sechs Sängerinnen aus Riga langjährige Kontakte in das musikalische Dorf, insbesondere zu Marija Vasilveska, mit der Rancāne lange Gespräche führte. Für ihren Bachelorabschluss organisierte Rancāne auch ein Konzert, das als ursprüngliche Inspiration für das Album Songs From Auleja gelten kann. Mit der Aufnahme würdigen Tautumeitas die ungewöhnlich reiche Gesangstradition des Ortes und vor allem die Sängerinnen von Auleja Sivas.

Tautumeitas

Pēteris Vīksna

Bolsi bedeutet übersetzt „Stimmen“. Traditionell wurden diese Bolsi gesungen, wenn die Frauen aus Auleja gemeinsam ihrer Arbeit nachgingen, etwa bei der Heuernte. Es gibt auch spezielle Bolsi zu Ehren des lettischen Fruchtbarkeitsgottes Jumis oder für Hochzeiten. Der Stil gilt in Lettland als außergewöhnlich und unterscheidet sich von anderen musikalischen Traditionen des baltischen Landes. Die Gründungsmitglieder von Auleja Sivas stammten alle aus Auleja. Geprobt wurde damals bei den Sängerinnen zu Hause, manchmal sogar in der Sauna! Dabei hatten die Ensemblemitglieder meist ihre Handarbeiten dabei. Öffentlich bei Gesangsveranstaltungen aufgetreten ist die Gruppe erst in den Siebzigerjahren, wo die Sängerinnen bei den lettgallischen Folkloretagen zu den „Königinnen des Abends“ ausgerufen wurden.

Die Studioaufnahme der traditionellen Bolsi war auf jeden Fall eine blendende Idee, denn so können wir den lebhaften „Frühlings-Bols“ kennenlernen, den Bols zum Beerenpflücken und natürlich auch den Mitsommer-Bols, der dem besagten Fruchtbarkeitsgott Jumis huldigt. Dieser ist in der lettischen Mythologie die Personifikation der Doppelähre. Ganz klar: Ohne die Bolsi aus Auleja würde uns etwas fehlen!

„Wir lieben es, unsere Wurzeln zu spüren und uns unseren Vorfahren eng verbunden zu fühlen.“

Einer der Höhepunkte der Songs From Aulejaist das bewegende Lied „Ar Gūdeni Dzīdit, Meitys!“, was übersetzt so viel heißt wie „Singt mit Ehre, ihr Mädchen!“ Die Sängerinnen von damals und heute drücken hier ihre Persönlichkeit durch ihre Stimmen aus. „Wir lieben es, unsere Wurzeln zu spüren und uns unseren Vorfahren eng verbunden zu fühlen“, erzählt Asnate Rancāne. Tautumeitas wollen mit den Songs From Auleja auch daran erinnern, dass sich unserer Gefühle kaum von denen der Menschen aus früheren Generationen unterscheiden. „Wir sprechen über die gleichen Dinge. Nur wussten unsere Vorfahren mehr als wir heute. Sie wussten alles über Natur und Religion. Sie räumten der Gesellschaft und der Familie in ihrem Leben einen hohen Stellenwert ein. Heute wissen wir sehr viel weniger als unsere Vorfahren, und dieses Wissen geht in diesen Tagen immer noch weiter verloren. Ohne dieses Wissen werden wir aber immer schwächer“, macht Rancāne deutlich.

„Heute wissen wir sehr viel weniger als unsere Vorfahren, und dieses Wissen geht in diesen Tagen immer noch weiter verloren.“

Lettland ist weltweit bekannt als das „Land der Sängerinnen und Sänger“ – zumindest bezeichnen sich die Letten selbst so. Das alle fünf Jahre stattfindende Lied- und Tanzfestival gilt als das kulturelle Glanzlicht des jeweiligen Sommers. Das nächste Mal findet es im Jahr 2023 statt. Die Bedeutung der Volksmusik in Lettland kann nach Einschätzung der Tautumeitas-„Chefin“ deshalb nicht hoch genug eingeschätzt werden. Sie gilt als Wiege der nationalen Identität. „Singen ist unser Leben, ganz egal ob wir auf der Bühne stehen oder nicht“, betont die Musikerin. Und an eine Sache glauben Tautumeitas ganz fest: dass Musik die Welt zu einem besseren Ort macht.

In ihrer lettischen Heimat sind die sechs temperamentvollen jungen Frauen von Tautumeitas bereits gefeierte Newcomerinnen und wurden mit verschiedenen Nachwuchspreisen ausgezeichnet. Von wegen alte Zöpfe! Der euphorische, das Leben feiernde Song „Sadziedami“ vom Debütalbum des Sextetts schaffte es im Sommer sogar in die offiziellen lettischen Single-Top-Ten. Den Preis für das beste Ethnoalbum räumten Tautumeitas für ihre gemeinsame Veröffentlichung mit den wilden Folkpiraten Auli in Lettland bereits Anfang 2018 ab.

Tautumeitas

Foto: Aiga Redmane

Berührungsängste vor ganz neuen Formaten haben die Musikerinnen sicherlich nicht: Ein Video, in dem die jungen Frauen in ihrer traditionellen Tracht Werbung für die lettische Supermarktkette Rimi machen, entwickelte sich in ihrer Heimat zum veritablen Youtube-Hit. Tradition kann also auch aufregend klingen. Und unbeschreiblich weiblich! Selbst bei ihren Bühnenoutfits verbinden die Tautumeitas-Sängerinnen gekonnt Tradition und Moderne: Die kunstvoll gearbeiteten Textilkronen, die sie bei ihren Liveauftritten tragen, wurden von der bekannten lettischen Kunsthandwerkerin Brigita Stroda entworfen.

Bei ihrem deutschen Labelchef haben Tautumeitas übrigens für eine modische Revolution beim Schuhwerk gesorgt: Christian Pliefke trägt im Sommer inzwischen mit Vorliebe Pastalas, den lettischen Nationalschuh. Pastalas sind Schnürschuhe ganz aus Leder, die ganz entfernt an Ballettschuhe erinnern. Sie stehen übrigens auch Männern ausgezeichnet und sind ebenso luftig wie bequem.

„Überarbeitete und ergänzte Fassung eines Beitrags aus Folker 1/2020, www.folker.de“

Aufmacherfoto:

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