Czech Music Crossroads ist eine internationale Konferenz mit dreißigminütigen Showcases, die Mitte Juli 2021 zum siebten Mal stattfand. Im letzten Jahr musste die Veranstaltung kurzfristig wegen der steigenden Zahl an Coronainfektionen ausfallen. In diesem Jahr gelang es den Organisatorinnen und Organisatoren erfreulicherweise, dieses hochinteressante Event wieder stattfinden zu lassen. Die unterschiedlichen Pandemierestriktionen in verschiedenen Ländern erschwerte die Vorbereitung, sodass einige eingeladene Delegierte nicht anreisen konnten. Ort der Veranstaltung ist Ostrava im nordöstlichen Tschechien, nahe der polnischen Grenze und nicht weit von der Slowakei entfernt. Die drittgrößte Stadt der Tschechischen Republik war einst eine Metropole der Eisen- und Stahlproduktion mit angeschlossenem Kohlebergwerk, bis der allgemeine Niedergang der europäischen Schwerindustrie schließlich auch das Aus für die Produktion im Stadtteil Vítkovice bedeutete. Der gewaltige Industriekomplex Důl Hlubina blieb weitgehend erhalten und bietet eine erstaunliche Mischung aus im Urzustand belassenen Industriebauten und Fördertürmen sowie renovierten Gebäuden, die Platz bieten für Cafés, Restaurants und Räumlichkeiten für Tagungen und Konzerte. Ein ungeschöntes Industriedenkmal mit rauem Charme. Genau hier findet Czech Music Crossroads statt. Důl Hlubina mit seiner riesigen Fläche ist seit zwanzig Jahren auch der Ort, auf dem das Colours-of-Ostrava-Festival stattfindet – eines der größten Festivals in Mitteleuropa, das zehntausende Besucherinnen und Besucher anzieht. Hier treten in einem vielfältig gestalteten Programm jedes Jahr zahlreiche weltberühmte internationale Künstler und Künstlerinnen aus Rock und Pop auf. Zudem hat das Organisationsteam namhafte Bands aus der Roots- und Weltmusikszene integriert.
Text: Willi Klopottek
Im Laufe der Jahre reifte bei den Verantwortlichen von Colours of Ostrava der Gedanke, ein Forum zu schaffen, um tschechische Acts und ihre Musik zu fördern, die im In- und vor allem im Ausland nur unzureichend wahrgenommen werden. Zudem sollten Konzertveranstalter:innen, Plattenfirmen und Medienvertreter:innen sowohl die Musik kennenlernen als auch selbst untereinander in Kontakt treten und sich austauschen können. So fand schließlich 2014 unmittelbar im Vorfeld des Festivals die erste Czech-Music-Crossroads-Konferenz statt. Zunächst wurden lediglich tschechische Bands, Künstlerinnen und Künstler sowie Medienschaffende eingeladen, aber schon im folgenden Jahr erweiterte man das Spektrum und begann, die Musik der anderen mitteleuropäischen Länder einzubeziehen. Seitdem präsentieren sich hier jedes Jahr Kulturschaffende aus der Tschechischen Republik, der Slowakei, aus Polen und aus Ungarn. In diesem Jahr allerdings war Ungarn unter anderem wegen der unsicheren Pandemie-Reisereglementierungen nicht vertreten. Zudem lädt man seit geraumer Zeit auch Vertreterinnen und Vertreter aus einem nicht zentraleuropäischen Land ein. 2021 wäre es Korea gewesen, aber auch hier machte die Pandemie den Organisatoren und Organisatorinnen einen Strich durch die Rechnung; wie übrigens auch im Hinblick auf das Colours-Festival, das zum zweiten Mal hintereinander aussetzen musste.
Orkiestra sw. Mikolaja
Foto: Willi Klopottek
Die Musikszene in Zentraleuropa ist vielschichtig und höchst lebendig. Polnische Jazzbands haben seit Jahrzehnten in Westeuropa einen guten Ruf. Wie auch der tschechische Keyboarder Jan Hammer, der unter anderem John McLaughlins Mahavishnu Orchestra mitgeprägt hat. Traditionelle Musik aus Ungarn ist von klassischen Komponisten wie Béla Bartók und Johannes Brahms verarbeitet worden, Leoš Janáček tat dies mit tschechischer Musik. In der Weltmusikszene ist ungarische Rootsmusik unter anderem durch die Sängerin Márta Sebestyén und die Gruppe Muzsikás bekannt geworden. Ihren Wurzeln verhaftete polnische Bands wie etwa die Warsaw Village Band und Kroke haben zahlreiche erfolgreiche Platten veröffentlicht und touren auch jenseits der Oder intensiv. Darüber hinaus gibt es jedoch eine ganz große Anzahl von Gruppen, die im Westen noch nicht wahrgenommen werden, gerade auch aus der Tschechischen und der Slowakischen Republik. Dabei ist es mehr als vernünftig, die Ohren auch dorthin auszurichten, wenn man Neues entdecken will, denn in allen diesen Ländern ist nicht nur die Rootsszene höchst aktiv und spannend.
Ludova hudba Pokosovci
Foto: Willi Klopottek
Die Showcases der Czech Music Crossroads deckten auch in diesem Jahr ein breites Feld an Stilen ab. Radek Baborák & Orquestrina aus Tschechien begaben sich auf einen Streifzug durch das Schaffen Astor Piazzollas – Tango in kammermusikalischem Rahmen und ohne Bandoneon. Jazzorientiertes präsentierten Beata Hlavenková a Kapelou Snů, ebenfalls Tschechien, sowie die Landsleute der Clarinet Factory, die sich mit vier Klarinetten gekonnt zwischen Klassik, Folk und Weltmusik bewegten. Aus der experimentellen Noise-Ecke stammt die polnische Gruppe Ciśnienie, während sich die Tschechen von Bratři Orffové als elektronische Indiefolkband mit Dada-Einflüssen definieren. Der ebenfalls aus Tschechien stammende Tomáš Reindl bot unter dem Namen Omnion elektronische Trancesounds mit vielen indischen Inhalten, vor allem auf der Tabla. Karolina Rec tritt als Resina auf. Sie ist eine der bedeutenden Künstlerinnen der Independentszene Polens und hatte in Ostrava einen Soloauftritt mit ihrem Cello. Unter Einsatz von Loops gelang es ihr, ein ganz intensives Kurzkonzert auf die Bühne zu bringen, das bewies, dass sich bei ihr ausgezeichnete Instrumentenbeherrschung mit dem Talent zur Schaffung komplexer und dynamischer Klanglandschaften verbindet.
Bei den Gruppen Zentraleuropas, die entweder traditionelle Musikformen spielen oder sie mit modernen Elementen verbinden, spielt die Violine eine zentrale Rolle. Die traditionelle Musik hat dort eine lange Geschichte. Nach dem Zweiten Weltkrieg, als diese Länder von kommunistischen Parteien beherrscht wurden, die wiederum in Abhängigkeit von der Sowjetunion standen, benutzte man die alten Musikformen, um so etwas wie „nationale Identität“ zu schaffen. Allerdings wurden alte Gesänge und Tänze in der Regel in das enge Korsett staatlicher Kulturpolitik gezwängt – inklusive Ausbildung an staatlichen Konservatorien und an der Klassik orientierter Standardisierung. Gleichwohl blieben viele ursprüngliche Stile – vor allem in den Dörfern – lebendig, sodass in vielen Fällen schon vor der Öffnung der Grenzen ein Folkrevival, das sich an authentischen Klängen orientierte, in die Wege geleitet werden konnte.
Foto: Willi Klopottek
Die polnische Gruppe Orkiestra św. Mikołaja („St.-Nikolaus-Orchester“) wurde 1988 gegründet. Ihre Mitglieder erforschten unter anderem die Musiken der Minderheiten in den Ausläufern der Karpaten und brachten sie auf die Bühne. Zudem wurden ein Festival initiiert und eine Zeitschrift herausgegeben. Die Besetzung der Band wechselte im Laufe der Jahre, aber Bogdan Bracha und Marcin Skrzypek bilden die Kerntruppe. In Ostrava zeigte die Gruppe, wie man Althergebrachtes überzeugend in die Gegenwart transportiert, auch wenn zu den akustischen Instrumenten E-Bass und Schlagzeug hinzugefügt wurden. Auf ähnlicher Linie bewegt sich das tschechische Projekt Hrubá Hudba. Hier handelt es sich im Kern um eine von Petr Mičky geleitete Gruppe, die aus einem abgelegenen Ort in der Horňácko-Region im südlichen Mähren kommt und Teil der lebendigen Dorfkultur ist. Die Melodien folgen anderen Regeln als im westlichen Tschechien, die Rhythmen sind verzwickt und basieren nicht auf dem einfachen Viervierteltakt. Eine alte Dame aus diesem Dorf bot in traditionell-bunter Kleidung und mit Gehhilfe in Ostrava zusammen mit der Gruppe einige ganz ursprüngliche Lieder dar. Bei Hrubá Hudba verstärkt sich die Kerntruppe aus drei Violinen, Klarinette und Kontrabass um den Keyboarder Jiří Hradil plus Drums und Trompete und erzeugt so eine sehr interessante Form experimentell angejazzter Rootsmusik.
Romamusik wird üblicherweise vor allem mit Ungarn in Verbindung gebracht. Dass in der Slowakischen Republik diese Musik zu den Favoriten in der Musikszene gehört, die Menschenmassen anzieht, ließ sich auch in Ostrava erfahren. L’Udova Hudba Pokošovci ist eine Band dieser Kategorie. Ihre Mitglieder sind semiprofessionell und gehen neben der Musik ganz normalen Berufen nach. Dennoch sind sie Meister auf Violine, Akkordeon und Kontrabass. Zwei Töchter des Bandleiters Miroslav Pokoš kamen zudem bei einigen Stücken als Sängerinnen mit auf die Bühne. Romamusikerinnen und -musiker beherrschen zwei unterschiedliche Spielarten. Die eine ist ein Repertoire von populären Tanzstücken, das allgemein auf Hochzeiten und anderen Festlichkeiten in der Slowakei gespielt wird; die andere ist die reine Romamusik, die von ihrer eigenen Community erwartet wird. Mit Letzterer begeisterten sie das Publikum in Ostrava. Zwei Gruppen zeigten, wie man musikalische Wurzeln heute zeitgemäß aufbereitet. Tomáš Kočko & Orchestr ist eine in Tschechien sehr erfolgreiche und mehrfach preisgekrönte Band, die ihr musikalisches Material in vorchristlichen Zeiten verortet und daraus akustischen, mährischen Folkrock fabriziert. Tomáš Kočko ist Sänger, Gitarrist und Mandolinenspieler, außerdem finden sich in der Bandbesetzung Kontrabass, Geige, das Cimbalom-Hackbrett, Flöten und Schlagzeug. Die begeisterten Publikumsreaktionen zeigten, dass die Truppe in Ostrava eine feste Fangemeinde hat. In ähnlicher Weise überzeugte die slowakische Gruppe Hrdza die Konzertbesucherinnen und -besucher. Die Gruppe wird von Slavomír Gibarti geleitet, die prägende Stimme kommt von Susanna Jara. In der Band gesellen sich Geige und Akkordeon zu E-Gitarre, Bass und Schlagzeug. Die Musik ist sehr rockig, auch mit Popanleihen, basiert aber auf traditionellen Musikformen Zentraleuropas.
Fazit: Czech Music Crossroads 2021 war abwechslungsreich und spannend und die beste Gelegenheit, tiefer einzutauchen in die kreative Musikszene Mitteleuropas. Festivalveranstalter und -veranstalterinnen in entfernten Ländern wie Indien und Korea sind längst auf diese Musik aufmerksam geworden. In Westeuropa sind es vor allem Clubs, die buchen, Frankreich etwa wird aber gar nicht erreicht. Das soll sich bald ändern, erklärte die Projektmanagerin der Crossroads, Petra Hradilová, im Gespräch. Da kann man nur besten Erfolg wünschen.
0 Kommentare