Kulturelle Aneignung?

Ansichten aus der Pariser Musikszene

4. Dezember 2022

Lesezeit: 8 Minute(n)

Die Debatte um kulturelle Aneignung tobt immer wieder, seit Sängerin Ronja Maltzahn im März dieses Jahres von einer Fridays-for-Future-Veranstaltung ausgeladen wurde, weil sie Dreadlocks trägt. Manche Aktivisten und Aktivistinnen störte eine Weiße mit dieser Form der Haartracht, das sei kulturelle Aneignung. Ähnliche Äußerungen im Namen von Antikolonialismus haben auch in der Schweiz zum Abbruch von Reggaekonzerten mit weißen Bandmitgliedern geführt. In Frankreich kennen laut einer Umfrage nur elf Prozent der Menschen den Begriff, meist 18- bis 35-Jährige mit höherer Bildung. Paris hält sich ja für ein Zentrum der Weltmusik, und unsere Autorin hat sich in der dortigen Szene umgehört und Künstlerinnen und Musiker zur deutschen Debatte befragt.
Text: Martina Zimmermann

Auf dem Konzert im legendären Pariser Jazzclub New Morning singt im Rahmen des alljährlichen Sommerfestivals J. P. Bimeni. Die Band des in London lebenden und aus Ruanda stammenden Sängers heißt The Black Belts, die Musiker kommen aus Spanien. Keinen im Publikum wundert es, dass hier weiße Instrumentalisten mit einem schwarzen Sänger Soulmusik interpretieren. Die Vermischung von Menschen gehört wie die Fusion von Musik zum Alltag.
„In Frankreich haben wir seit mehreren Jahrzehnten Afrikaner und Afrikanerinnen, die von Weißen begleitet werden, die sehr gut die afrikanischen Rhythmen beherrschen, weil sie diese gelernt haben.“ Musikjournalist Nago Seck ist Experte für Musik aus Afrika, er kennt selbstverständlich auch die Hits der französischen Chansonniers Claude Nougaro, Bernard Lavilliers oder Maxime Le Forestier, die sich von afrikanischen Stilen haben inspirieren lassen und von Musikern und Musikerinnen afrikanischer Abstammung begleitet wurden oder werden. „Ich sehe da kein Problem“, sagt er.

Jean-Baptiste Moundélé ist in dieser Szene zu Hause. Der Saxofonist hat seit den Achtzigerjahren mit fast allen afrikanischen Stars gespielt – Mory Kanté, Salif Keita, Oumou Sangaré, Tiken Jah Fakoly, um nur ein paar zu nennen. Viele der Großen vom afrikanischen Kontinent arbeiten gerne mit weißen Musikern, Backgroundsängerinnen, Tänzerinnen und Tänzern. Der senegalesische Superstar Youssou N’Dour wurde in der größten Pariser Konzerthalle von einer weißen Engländerin unterstützt, die senegalesischen Mbalax tanzte – unter tosendem Applaus des Publikums, das zu einem Großteil aus in Frankreich lebenden Landsleuten aus Senegal bestand.

„Man muss von einer kulturellen Aneignung unterscheiden, die mit politischer, kultureller oder wirtschaftlicher Herrschaft einhergeht.“

Der Musiker, der einmal Jean-Baptiste Dobiecki hieß, hat afrikanische Musikstile so sehr verinnerlicht, dass er den Namen Moundélé zu seinem Künstlernamen machte. Moundélé bedeutet auf Lingala, einer Sprache der Demokratischen Republik Kongos, „Weißer“. „Am Anfang nannten sie mich ‚moundele ndombi‘, ‚den schwarzen Weißen‘, was auch sympathisch ist“, erzählt er. Den Spitznamen erhielt er in Kinshasa, wo er während einer Tour mit dem ivorischen Reggaestar Tiken Jah Fakoly zu Gast war. „Als sie sahen, wie wohl ich mich dort fühlte, gab mir die Band diesen Namen, und ich finde, er klingt gut.“ Nun ist Moundelé sein afrikanischer Künstlername. „Ich wurde adoptiert, und das sind auch die Farben meiner Musik.“ Heute lebt er in Abidjan in der Elfenbeinküste.

Der kongolesische Musiker, Komponist und Pianist Ray Lema, ein in Paris lebendes Multitalent, sagte schon in den Neunzigern, dass die Qualität der Musiker und Musikerinnen in Paris außergewöhnlich sei. Dank der Weltmusik- und Jazzszene der französischen Hauptstadt wüssten alle, wie man ein Maghrebfeeling, einen Salsagroove oder einen Mandingotouch musikalisch umsetzt, egal ob er oder sie weiß oder schwarz sei, aus Afrika oder aus der Bretagne stamme.

Akalé Wubé spielen heute nur noch ab und zu gemeinsam, etwa wenn der äthiopische Sänger und Star Girma Bèyènè in Paris auftritt. Der Name der Band bedeutet „schöne Frau“ nach einem Hit aus Äthiopien. Genau diesen hat die Pariser Band mit dem exotischen Namen zwar nie gespielt, aber die fünf Musiker sind auf äthiopische Sounds spezialisiert. Schuld daran ist die Anthologie Éthiopiques des Pariser Labels Buda Musique. 1997 kam das erste Album der inzwischen dreißig Alben umfassenden Serie über das goldene Zeitalter der Musik Äthiopiens in den Siebzigerjahren heraus. Paul Bouclier, Bläser im Team von Akalé Wubé, erzählt, wie die jungen Musiker diese Klänge im neuen Jahrtausend für sich entdeckten: „Das lief über unsere Ohren. Menschen, die Musik machen, sind neugierig und fragen sich: Warum klingt etwas so, wie es klingt? Wir haben das nicht berechnet, unsere Ohren haben die Wahl getroffen.“

Ray Lema in der Cinémathèque française

Foto: Romanceor, Wikipedia CC BY 3.0

Die Band hat Hunderte von Konzerten in Frankreich, Europa und Afrika gespielt. Auf ihrem dritten Album war der Großvater der Afromusik als Gast dabei: Manu Dibango, einer der ersten Afroeuropäer. Dann machten sie ein Album mit Girma Bèyènè, dem erwähnten äthiopischen Star aus den Sechzigern, das als bisher letzte Veröffentlichung der Éthiopiques-Reihe 2017 erschien. So schloss sich der Kreis. Inzwischen gehen die Mitglieder der Band eigene Wege und spielen nur noch anlässlich Konzerten mit Bèyènè die äthiopischen Hits, wie im September 2022 im Studio de l’Ermitage.

Ein anderer weißer Franzose, der sich schwarzer Musik verschrieben hat, ist Axel Matrod alias El Gato Negro. Vor etwa 35 Jahren wurde er in Toulouse geboren. „Ich habe von klein auf nur schwarze Musik gehört“, so der Künstler, der mit Kumpels aus dem Maghreb und mit Schwarzen in die Schule ging. „Meine Großeltern waren Algerier, ich war oft in Marokko und viel mit den Schwarzen in Lateinamerika zusammen. Ich habe den Eindruck, selbst schwarz zu sein“, lacht er.

Ab seinem fünfzehnten Lebensjahr reiste der blasshäutige Matrod mit seiner Gitarre durch die Welt, vor allem eben durch Lateinamerika, wo er vier Jahre am Stück lebte, zwischen Argentinien und Mexiko. Auf Kuba traf er seine spätere Frau Irina, mit der er heute im Duo singt. In seiner Band stammen außer Irina und dem mexikanischen Schlagzeuger alle anderen Mitglieder aus Toulouse. Gemeinsam spielen sie Cumbia, den kolumbianischen Musikstil, der zurzeit in ganz Lateinamerika angesagt ist.

Die weißen Franzosen, die schwarze Musik machen, beweisen, dass Musik keine Grenzen und keine Hautfarbe hat. Afrikaner wie Ray Lema oder Manu Dibango spielen schon lange mit Sinfonieorchestern, Moundélé, El Gato Negro oder Akalé Wubé sind weiß, was man ihrer Musik aber nicht anhört.

„Ich finde es sehr ungerecht, einer weißen Künstlerin oder einem Künstler mit Dreadlocks zu verbieten, die Musik zu machen, die er oder sie fühlt!“, empört sich Julia Sarr. „Das ist wohl eine subtile Art, afrikanische Musik in eine Schublade zu stecken.“ Die in Dakar geborene Sängerin findet es „unerträglich“, jemandem bestimmte Musikstile nicht zugestehen zu wollen. „Wenn ich heute Lust habe, mir die Haare blond zu färben und Techno zu machen, ist das dann kulturelle Aneignung?“

Julia Sarr lebt seit über 25 Jahren in Paris und ist eine sehr gefragte Backgroundsängerin. Sie hat übrigens mit dem Studium aufgehört, als sie im Studio mehr verdiente als mit einem Monat Babysitten. Die Liste der Berühmtheiten, mit denen sie gearbeitet hat, reicht bis hin zu Jean-Jacques Goldman oder Julio Iglesias. Julia Sarr singt mit Pariser Rappern oder mit dem kongolesischen Stimmwunder Lokua Kanza, mit dem sie zwölf Jahre lang gemeinsam auftrat, mehrmals auch auf dem Würzburger Africa Festival. „Als ich mein eigenes Projekt machte, rief ich dort an und fragte, ob sie mich ins Programm nehmen wollen“, erinnert sie sich. Heute traue sie sich, diese Geschichte zu erzählen. „Sie antworteten verlegen, es störe sie, dass meine Bandmitglieder nicht schwarz sind!“ Die Afrikanerin ist immer noch schockiert. „Sie sagten: ‚Aber deine Musiker sind doch weiß und keine Afrikaner.‘ – ‚Ja und?‘, antwortete ich. ‚Sie spielen meine Musik sehr gut.‘“ Sarr ist also nie mit ihrem eigenen Projekt auf dem Würzburger Festival aufgetreten. „Ich entspreche wohl nicht dem Bild, das sie von afrikanischer Musik abbilden wollen“, sagt die Sängerin mit einem Schulterzucken. „Das Bild ist in ihren Köpfen, das Klischee einer gewissen afrikanischen Musik, die mit einem Knochen in der Nase gespielt werden muss.“ In ihre eigene Musik mischt Julia Sarr Jazzimprovisationen oder bereist die swingende Welt des Afrojazz. Aber die Basis sei in Senegal, sagt sie. Sie singt in der Landessprache Wolof.

Der ebenfalls aus dem Senegal stammende Spezialist in Sachen afrikanische Musik Nago Seck organisiert Konferenzen zum Thema in den USA, Kanada, Afrika und selbstverständlich auch in Frankreich, wo er an Konservatorien die afrikanischen Musikstile und ihre Geschichte erklärt. Eine sehr notwendige musikalische Erziehung, meint Seck. „Selbstverständlich erzählt Musik von der Seele, der Kultur eines Volkes. Aber Musik ist offen für alle.“ Die Menschen in Afrika hätten schließlich auch Folk und Rockmusik für sich angenommen. Rock sei zwar ebenfalls eine „schwarze Kreation“ mit Little Richard und anderen amerikanischen Musikern und Musikerinnen, aber nach afrikanischem Empfinden kam diese Musik aus Amerika. „Musik kennt keine Grenzen“, betont auch Seck. „Lasst uns die Tore öffnen und die Kinder machen, worauf sie Lust haben! Wenn sie Dreadlocks oder Zöpfchenfrisuren wollen, warum sollten sie das nicht tun dürfen?“ Der Musikexperte verweist auf James Brown, der Lockenwickler benutzte und sich die Haare glättete: „Das ist James Brown!“ Seck nennt noch ein Beispiel: Michael Jackson habe bei seinem Moonwalk-Tanzschritt den französischen Pantomimen Marcel Marceau imitiert, und schlussfolgert mit tiefster Überzeugung: „Lasst die Leute machen, denn das ist Kreativität, das ist Öffnung und das ist die Einheit der Völker, die wir uns wünschen.“

Roger Raspail ist als Meister des Gwo Ka bekannt. Diese Musik kommt von den Sklaven und Sklavinnen der Karibikinsel Guadeloupe, auf der Raspail geboren wurde. Der Percussionist unterrichtet seine Kunst auch an der Pariser Philharmonie. „Als Erstes sage ich meinen Schülerinnen und Schülern ganz klar, dass Musik nicht einer Hautfarbe und noch weniger einer sozialen Klasse gehört.“ Musik sei für ihn ein Kulturerbe der gesamten Menschheit. Klar diene Musik dazu, Identität zu schaffen. „Aber wozu dient diese Identität?“, fragt Raspail. „Sie ist dafür da, anerkannt zu werden, damit die Welt weiß, dass wir existieren.“ Musikalische Diskriminierung findet der Künstler sehr schlimm. „Bob Marley hat den Reggae nicht für Jamaika gemacht, sondern für die ganze Welt. Und die ganze Welt hat Marleys Botschaft gehört!“

„Afrika ist Quelle von Inspiration, aber auch von Ausbeutung und Profitgier“, analysiert Roger Raspail. „Aber was die Musik angeht, haben wir alle begriffen, dass sie für alle gemacht ist.“ Jeder solle sich ausdrücken dürfen mit der Musik, die ihm gefällt und die er beherrscht. „Reggae aus Jamaika in Deutschland oder in Australien zu spielen, ist eine Art, daran zu erinnern, was Kolonisierung bedeutet“, so der Gwo-Ka-Lehrer, der sogar mutmaßt: „Vielleicht haben diese Leute Angst vor der Geschichte, Angst vor schlechten Erinnerungen.“ Für ihn ist klar: „Das hat doch nichts mit denen zu tun, die das Erdöl stehlen oder andere Bodenschätze.“ Eine Musik zu spielen und die Leute auf eine spirituelle Reise zu schicken, findet der Musiker aus der Karibik „eher großzügig“.

In der französischen Weltmusikszene herrscht Einigkeit: Eine Debatte um kulturelle Aneignung im Zusammenhang mit Musik ist im besten Fall ohne Belang, im schlimmsten Rassismus und Klischeedenken. Von den befragten Künstlern will nur Manu Théron den Begriff der „kulturellen Aneignung“ hinterfragen. Théron ist Sänger der Compagnie du Lamparo und Spezialist für okzitanische Musik. Er wuchs in Marseille und Algerien auf und befasste sich als Jugendlicher mit okzitanischer Sprache und Lyrik. Anfang der Neunziger reiste er vier Jahre durch Süditalien und Bulgarien, um die traditionelle Musik dieser Regionen kennenzulernen. 1995 kehrte er nach Marseille zurück und widmete sich fortan okzitanischem Gesang und okzitanischer Musik. Für eine künstlerische Entwicklung sei Aneignung im Allgemeinen nötig, so Théron. „Das muss man allerdings von einer kulturellen Aneignung unterscheiden, die mit politischer, kultureller oder wirtschaftlicher Herrschaft einhergeht.“ Sich über kulturelle Aneignung Gedanken zu machen, bedeute aber auf keinen Fall Verbote und Verurteilungen von Kulturschaffenden.

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www.bernardlavilliers.fr

www.facebook.com/akalewube

www.facebook.com/julia.sarr.96

www.facebook.com/roger.raspail1

www.gatonegrotropical.com

www.jp-bimeni.com

www.jbmoundele.com

www.occitanie-musique.com/fr/manutheron

www.raylema.com

Videos:

Claude Nougaro mit einer Hommage an Louis Armstrong: www.youtube.com/watch?v=dRbjG6I-1No

Maxime Le Forestier singt „Ambalaba“, ein Lied von La Réunion: www.youtube.com/watch?v=AvBJ-ROk4H4

Jean-Baptiste Moundélé bei TV5Monde: www.youtube.com/watch?v=fi7CkDMe5vk

Girma Bèyènè & Akalé Wubé mit „Enkèn Yèlélèbesh“: www.youtube.com/watch?v=V5AcjXPSX4Q

El Gato Negro mit „Radio Catatumbo (Live)“: www.youtube.com/watch?v=-JCqg6VBMII

Julia Sarr Trio, Live-EPK: www.youtube.com/watch?v=89HTbVpCXr0

Roger Raspail live beim Festival Banlieues Bleues 2017, featuring Anthony Joseph: www.youtube.com/watch?v=vtWPIymkNhY

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