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Gleichberechtigung in der Musikbranche – ist das noch ein Thema im Jahr 2023? Offenbar. Wenn auch die offenen Diskriminierungen hierzulande weitgehend verfemt sind, gibt es doch immer noch deutlich mehr fähige als bekannte Musikerinnen. Es soll hier nicht um Spitzfindigkeiten gehen, wie sie zunehmend auf dem Bolzplatz der Mikroagressionen ausgetragen werden. Hier schildern Expertinnen und Experten ihre Erfahrungen und ihre Maßnahmen gegen den Missstand.
Text: Imke Staats
Betrachten wir die Gitarrenszene. Während es dem Ohr egal ist, welches Geschlecht eine Person hat, die der Gitarre den Sound entlockt, kann dieser Aspekt in der Vermarktung der Klänge durchaus entscheidend sein über Erfolg und Wertschätzung in der Welt. Und das bei aller Aufgeklärtheit, allen Maßnahmen zur Gleichstellung, den Imagenachteilen, die Diskriminierungen zunehmend mit sich bringen. Dennoch ergibt eine Google-Anfrage nach den weltbesten Gitarrenspielenden aller Zeiten wie selbstverständlich Rankings, in denen meist die ersten dreißig Plätze von Männern belegt sind. Es gibt einen Wikipedia-Eintrag zu den weltbesten Gitarristen (ausschließlich von Männern bestellt) und keinen zu den weltbesten Gitarristinnen. Und das sagt nichts über die Qualität oder Leistung von Musikerinnen aus.
Wie kann es also sein, dass es noch immer leichter zu Ruhm führt, wenn ein Mann die Saiten anschlägt, als wenn die gleiche Leistung von einer Frau stammt? Die Gitarristin Judith Beckedorf hat darauf Antworten. Zusammen mit weiteren Frauen aus dem Gitarrenfach hat sie es sich zur Aufgabe gemacht, diesen Missstand abzubauen. Sie gründeten eine Initiative und nannten sie „MusiSHEans“. Sie kennen sich aus dem Studium der Akustischen Gitarre an der Hochschule für Musik in Dresden.
Die MusiSHEans wollen die berufliche Perspektive für professionelle Musikerinnen und Nachwuchsmusikerinnen aktiv verbessern. Sie wollen fähigen Frauen die große Bühne bieten, die ihnen gebührt, und Vorbilder für die kommende Generation schaffen. Ursprünglich waren es die Hamburgerin Beckedorf und die Niederländerin Karlijn Langendijk, die sich zusammentaten, um sich für Selbstverständnis und Selbstbewusstsein der Frauen an der Gitarre zu engagieren.
Musi-SHE-ans – während sich im Namen die Absicht des Umdenkens manifestiert, bleibt den Frauen innerhalb des Studiums die Entscheidung des passenden Wordings meist erspart, da die Unterrichtssprache Englisch ist. Beckedorf: „Da wir zumindest bei MusiSHEans hauptsächlich auf Englisch kommunizieren, ist das Problem der Sprache zum Glück nicht so groß. Ich persönlich bevorzuge in der deutschen Kommunikation das Gendersternchen. ‚Musiker*innen‘ bedeutet ‚alle Menschen, die Musik machen‘, also Männer, Frauen, Queere et cetera. ‚Musikerinnen*‘ bedeutet ‚alle Frauen und solche, die sich als Frauen identifizieren‘.“ Ist im Falle eines Studiums die Geschlechterverteilung deutschlandweit noch ausgeglichen – in der Instrumentalmusik liegt der Frauenanteil laut einer Studie von Music Women* Germany, dem Dachverband aller Musikfrauen in Deutschland, sogar bei 54 Prozent –, „verdünnt“ sich die Präsenz von Frauen mit zunehmender Professionalität und Öffentlichkeit stark. Weitere Zahlen zeigen die Schieflage deutlich.
Doch warum? Es liegt jedenfalls nicht daran, dass sich die meisten Studentinnen nach dem Abschluss für eine andere Laufbahn entscheiden. Laut Beckedorf erschwert eine traditionell patriarchische Struktur im Musikgeschäft Frauen den Weg nach oben. Konkret bedeutet das, dass an fast allen Positionen, die für eine Karriere bedeutend sind, Männer entscheiden, wem sie den Zuschlag erteilen. Ob in Professuren, im Booking, in der Geschäftsführung der Labels oder der Produktion … – man kann sich im Internet leicht selbst davon überzeugen: musicwomengermany.de/services/facts. Das hat nicht unbedingt etwas mit Diskriminierung zu tun, sondern passiert in den meisten Fällen eher unbewusst: Männer kennen Männer und geben ihren „Kumpels“ gern eine Chance. Normales „Buddy Business“ – oft arglos unüberlegt und in bester Absicht gedealt, das aber dann doch Frauen gleicher Qualifizierung benachteiligt. Besonders wenig Frauen sind in den Bereichen Moderation und Technik zu finden, wie etwa in der Unterhaltungs-, Veranstaltungs-, Kamera- und Tontechnik.
An dieser Stelle drängt sich die Frage auf, ob Frauen in derselben Entscheidungsposition besonnener handeln würden oder ob generell angestrebt werden sollte, Karriereentscheidungen von Aspekten jenseits der Qualität der Sache abzukoppeln. Denn Gleiches gilt auch für alle anderen Geschlechter: Bei gleichwertiger Auswahl wird üblicherweise die eigene Community unterstützt. Beckedorf formuliert deshalb die Utopie von MusiSHEans so: „Unser Traum ist eine Musikwelt, in der Musik, ganz unabhängig von Faktoren wie Herkunft oder Geschlecht gehört wird.“ Erstrebenswert sei eine Normalität, bei der die weibliche Urheberschaft nicht mehr als Besonderheit gilt, sondern wegen toll gemachter Musik Wellen schlägt. Ihr ist jedoch klar, „dass wenn wir die strukturelle Ungleichheit – nicht nur gegenüber Frauen* – beseitigen wollen, brauchen wir die Mithilfe der strukturell bevorzugten – in den meisten Fällen weißen – Männer*. Sie haben eine ganze Menge Reflexionsarbeit zu leisten, bei denen Frauen* helfen können. Aber eine grundsätzliche Aufgeschlossenheit braucht es schon. Zu einem gewissen Grad kann ich sogar verstehen, dass Männer* oft zögerlich reagieren. Vor dem Hintergrund von MeToo kann man leicht verunsichert sein darüber, was man sagen darf und was nicht. Und für diejenigen, die es gewohnt sind, mit Privilegien zu leben, die sie vielleicht nicht einmal wahrnehmen, fühlt sich der Prozess des Ausgleichs so an, als würden sie etwas verlieren.“
Noch immer verunsichern nicht nur uralte chauvinistische Sprüche wie „Nicht schlecht für eine Frau“ das Selbstbewusstsein aufstrebender Künstlerinnen. So etwas muss nicht einmal ausgesprochen werden, schon die Angst vor einer Beurteilung nach Geschlecht und Äußerlichkeiten steuert ihren Mut, sich der Öffentlichkeit auszusetzen. Beckedorf: „Den Spruch ‚Nicht schlecht für eine Frau‘ oder Youtube-Kommentare à la ‚Beautiful girl and great performance‘ kennen fast alle Musikerinnen*, vor allem Instrumentalistinnen*, die Videos von sich mit ihren ‚Fans‘ teilen. Ich kann mir gut vorstellen, dass solche Kommentare für viele Künstlerinnen sehr abschreckend sind und sie deshalb nicht so schnell Musik von sich mit der Öffentlichkeit teilen, weil sie eine übertriebene Kritik an ihren Fähigkeiten oder ihrem Äußeren fürchten.“
Um das Selbstbewusstsein zu stärken, bieten die MusiSHEans konkrete Hilfe an wie Mentoring, sich als Geschäftsfrau zu organisieren und mit Social Media umzugehen, und geben ihr Expertinnenwissen aus den Bereichen Booking, Organisation und Kulturkommunikation weiter. Das Internet nennt Beckedorf eine „Wunderwaffe“. „Allen, die wollen, ist es innerhalb weniger Minuten möglich, ohne großen Kostenaufwand Songs und Videos aufzunehmen, eine Website zu erstellen und sie mit der ganzen Welt zu teilen. Gatekeeper wie zum Beispiel Labelchefs haben nicht mehr so eine große Power. Musiker*innen können jetzt ihre eigenen Manager*innen sein und ihre Karrieren auch aus sich heraus und mithilfe der vielen leicht zugänglichen Wissensquellen entwickeln“, sagt Beckedorf.
Vernetzung ist wichtig. Um auch politisch wirksam zu sein, gründete Judith Beckedorf Anfang 2021 das Netzwerk Music S Women*, das sich spezifisch für die Situation in Sachsen einsetzt. Ein im selben Jahr geplantes Festival wurde auf den Spätsommer 2022 vertagt, und so fand das erste MusiSHEans-Festival vom 2. bis 4. September 2022 in Dresden statt, bei dem an drei Tagen ein Programm unterschiedlicher Stilrichtungen geboten wurde, wie etwa einer „Mixed Night“ mit Folk, Indiepop und deutschem Songwriting unter anderem von Karl die Große, einer Vocal Night, und einer Nacht für Gitarren. Mehr Infos dazu sind hier zu finden: musisheans.com/festival.
Die neue MusiSHEans-Tournee – nach der ersten 2019 – findet nach der pandemiebedingten Verschiebung im letzten Frühjahr nun im Mai und Juni 2023 statt. Hier werden neben den beiden Veranstalterinnen Judith Beckedorf (Pop Fingerstyle, Singer/Songwriter) und Karlijn Langendijk (Classic Fingerstyle) außerdem die israelische Flamencogitarristin Noa Drezner sowie die Modern-Fingerstyle-Virtuosin Janet Noguera aus Mexiko auf der Bühne erwartet. In den Konzerten der Tour durch Deutschland, Tschechien, Österreich, die Schweiz, Italien, Frankreich und die Niederlande spielen die vier Musikerinnen sowohl solo als auch in verschiedenen Kombinationen miteinander.
Youtube-Kanal: www.youtube.com/channel/UCzboDPazqx_9Jgnx4dps_Pw
Termine:
07.05.23 Dresden, Jazzclub Tonn
09.05.23 Berlin, Petruskirche
10.05.23 Prag (CZ), tba
11.05.23 Linz (A), Tribüne
12.05.23 Maisach, Bräustüberl (Beer & Guitar)
13.05.23 Sempach (CH), Leise Töne
16.05.23 Hannover, Pavillon
17.05.23 Kassel, Kulturzentrum Schlachthof
19.05.23 Ludwigshafen, Das Haus
20.05.23 Freepsum, Kultur Gulfhof
23.05.23 Leipzig, Kulturhof Gohlis
24.05.23 Tübingen, Westspitze
26.05.23 Florenz (I), Six Bars Jail
03.06.23 Redon (F), P’tit Théâtre de Notre-Dame
04.06.23 Redon (F), P’tit Théâtre de Notre-Dame (Workshop)
Details auf www.folkerkalender.de
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