Eine Woche nach Beginn der Krawalle in Frankreich eröffnet das Festival Marseille Jazz des Cinq Continents in der Mittelmeerstadt mit einer Gedenkveranstaltung zum hundertsten Jahrestag der Ankunft in der Stadt des Schriftstellers Claude McKay.
Text und Fotos: Martina Zimmermann
Marseille, Theâtre de la Sucrière, 15. Arrondissement. „Das ist kein Konzert“, sagt Lamine Diagne nach den ersten Klängen. Das Quintett spielt weiter. Die Eröffnungsveranstaltung des Festivals Jazz des Cinq Continents ist die Vertonung einer Geschichte, eines Lebens. Eine musikalische Kreation mit Poesie, Filmausschnitten und Bildern, Dokumenten und Interviews, die sich um Werk und Leben des jamaikanischen Schriftstellers Claude McKay drehen. McKay landete vor genau hundert Jahren in Marseille, damals Hafen- und Hauptstadt des französischen Kolonialreichs. Hier trafen sich Vagabunden, Musikschaffende, Dockarbeiter aus aller Welt. Dieses Marseille der 1920er-Jahre beschreibt der Vorreiter der literarischen Harlem-Renaissance-Bewegung, in seinem Werk Banjo. „Dieser Roman ist so musikalisch, bildhaft und voller Stimmung, dass ich sofort Lust hatte, einen Film zu machen“, erklärt Matthieu Verdeil, Regisseur und Co-Autor des Eröffnungsabends. Verdeil beschreibt Claude McKay als „Schriftsteller, Vagabund, Revolutionär, Romanschreiber, Journalist, homosexuell, intellektuell, proletarisch“.
Lamine Diagne
Der Musiker Lamine Diagne ist auch ein fantastischer Geschichtenerzähler. Auf Musik zwischen Rap, Blues und Jazz rezitiert er Verse des Poeten, schildert dessen Leben, das über die Südstaaten der USA nach Europa führte, wo er in London, Paris oder Moskau sämtliche Denker seiner Zeit traf, bis es ihn nach „Marseille“ verschlug. Als der Name der Stadt erklingt, unterbricht schallender Applaus die Show. Das Publikum des 1.200 Plätze umfassenden Amphitheaters im Rathauspark dieses Nordviertels von Marseille klatscht begeistert. „Ich bin noch nicht fertig“, sagt Diagne bescheiden mit seiner wohltönenden Stimme und liest aus Banjo vor, von Proletariern aus Afrika, der Karibik oder China im Alten Hafen von Marseille. Mal verfällt er in Slam oder Rap, dann greift er zum Saxofon oder zur Querflöte, und schon klingt die Musik nach modernem Jazz. Gitarrist Wim Welker zupft auch mal im Rockmodus, Kontrabassist Christophe Lincontang brummt den Blues, dann spielt die Band einen Swing, und es geht um die amerikanische Civil-Rights-Bewegung, die zu der Zeit begann, als Claude McKay in den USA war. Keyboardspieler Ben Rando und Schlagzeuger Jérémy Martinez bringen afrikanische Sequenzen, hinzu kommen Gesänge in fremden Sprachen, zum Beispiel als auf der Leinwand Marseiller Bürgerinnen und Bürger erzählen, wie sie selbst hier landeten – eine Frau flüchtete vor Krieg und Bürgerkrieg aus Zentralafrika, ein junger Mann aus Kamerun, wo er vom Regime verfolgt wurde. Es sind echte Einwohner von Marseille. „Die Personen bei McKay sind Absteiger, Umherziehende, Migranten“, erklärt Lamine Diagne. „Wir wollten in der Show hundert Jahre später Menschen mit einer ähnlichen Geschichte einbringen.“
Lamine Diagne mit Wim Welker und Christophe Lincontang
„Miteinander und Zusammenleben sind in Marseille kein Konzept, sondern Wirklichkeit.“
Bewegende Augenblicke, die sehr andächtig werden, als auf Musik und Bilder vom blauen Mittelmeer der dort ertrunkenen Geflüchteten gedacht wird. Dazu spielt Diagne Querflöte, auf der Leinwand sind die Muttersprachen der Menschen aus Marseille zu hören, in einem bunten Kauderwelsch. „Ich wollte eine zeitgenössische Antwort auf McKays Texte“, so Diagne. „Die Aufführung wurde als Dialog mit einem verschwundenen Dichter geschrieben.“ Daher der Titel: „KAY! Lettres à un poète disparu“.
Die Show ist ein Pingpongspiel aus Texten, Musik und Bildern. Manchmal illustrieren die Fotos den Text oder die Musik, mal wird die Leinwand ausgeschaltet und die Aufmerksamkeit auf die Musik oder die Worte gelenkt. Manchmal hört das Wort auf und lässt Platz für die Bilder, selten herrscht Stille für das Gelesene. Musik ist die treibende Kraft der Kreation zur Eröffnung der 23. Ausgabe des „Jazz der fünf Kontinente“.
Matthieu Verdeil mit Marseiller Bürgerinnen und Bürgern mit Migrationsgeschichte
„Wir verteidigen einen Jazz, der um den Planeten gereist ist, der andere Kulturen, Töne, Rhythmen, Geschichten getroffen hat und der eine Musik von heute ergibt“, sagt der Direktor des Festivals, Hughes Kieffer. Es gehe auch um die Unterstützung von Künstlern und Künstlerinnen aus Marseille, die über die Stadt hinaus bekannt sind, und um Persönlichkeiten, die eine Geschichte haben mit Marseille. Alles trifft auf die Show um Claude McKay zu. „Man kann den Aspekt der Kreation nehmen, den Inhalt oder den Aspekt der lokalen Kulturschaffenden.“ Ziel des Festivals ist es auch, das Publikum an viele verschiedene Orte der Stadt zu bringen. „Marseille ist die Geschichte von 111 Dörfern“, so Kieffer. „Das Publikum kann die künstlerische Resonanz mit dem Ort entdecken, an dem die Konzerte jeweils stattfinden.“
„Jazz ist nicht tot und Jazz ist nicht für eine Elite.“
Lamine Diagne und Matthieu Verdeil
Auch in Marseille gab es wüste Unruhen und Plünderungen in Folge des Todes eines Siebzehnjährigen im Pariser Vorort Nanterre, der am 27. Juni 2023 von einem Polizisten bei einer Kontrolle erschossen worden war. Das Drama löste Krawalle in ganz Frankreich aus, in Marseille plünderten Jugendliche Geschäfte und zündeten Mülleimer an. Seither wird in Frankreich wieder über Immigration und Integration diskutiert, oft mit populistischen und rechtsextremen Thesen.
In Marseille aber feiert das Festival nur eine Woche später das Zusammenleben und die Vielfalt in der Stadt. Das Publikum tobt vor Begeisterung, die in der Show interviewten Protagonisten und Protagonistinnen steigen zum Schluss auf die Bühne, und alles endet in einer partizipativen musikalischen Party. „Als ich den Roman Banjo las, der vor hundert Jahren spielt, verliebte ich mich erneut in Marseille“, freut sich Lamine Diagne. „Dieses Miteinander und Zusammenleben seit über zweitausend Jahren sind hier kein Konzept, sondern Wirklichkeit.“
Lamine Diagne mit seiner Band
Das Eröffnungskonzert des Festivals „Jazz der fünf Kontinente“ ist übrigens kostenlos. So will es die Tradition seit über 23 Jahren. Als vor zwei Monaten die Plätze ausgeschrieben wurden, waren sie innerhalb von zwei Tagen weg, die Show somit „ausverkauft“. „Jazz ist nicht tot, und Jazz ist nicht für eine Elite“, freut sich der Festivaldirektor. „Jazz ist eine Musik von heute.“
Die Lust macht auf die Hafenstadt am Mittelmeer. Marseille Jazz des Cinq Continents geht nach diesem Abend knapp drei Wochen weiter, und Claude McKay wird noch bis ins kommende Jahr zelebriert, mit Konzerten, Filmvorführungen und Kolloquien. Die Eröffnungsshow soll auch nach Afrika und in die USA reisen.
www.facebook.com/claude.mckay.336
Roman von Claude McKay auf Deutsch:
www.ebersbach-simon.de/buecher/banana-bottom
Weitere Infos zu Claude McKay:
Was für ein mitreißender Artikel, der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft vereint und alle Sinne berührt. Ein Artikel, der beweist, dass lesen bildet, Musik vereint und grausame Geschichte nicht hoffnungslos sein muss. Ich danke allen an diesem Artikel Beteiligten, den Toten wie den Lebenden, für diesen mutmachenden Samen, den sie in mein Herz gesät haben. Mir gibt er Zuversicht!