Am Tor zur Sahara, in M’hamid El Ghizlane, der „Ebene der Gazellen“ im Südosten Marokkos treffen sich im April 2025 zum zwanzigsten Mal die Freundinnen und Freunde der nomadischen Kultur. Das Festival repräsentiert Marokkos kulturelle und religiöse Vielfalt und ist ein Raum für interkulturellen Austausch, Frieden und respektvollen Umgang miteinander. Es ist gewissermaßen eine „Ode an die Freiheit“ und feiert das kulturelle Erbe nomadischer Gemeinschaften.
Text und Fotos: Kat Pfeiffer
Die meisten Nomaden und Nomadinnen haben sich inzwischen dauerhaft niedergelassen und leben heute in M’hamid, einer Gemeinde, in der rund 6.500 Menschen leben und die vor allem durch ihre traditionellen Lehmhäuser geprägt ist. Der Ort lebt größtenteils vom Sahara-Tourismus und ist Fremden gegenüber offen. Durch zur Anschauung aufgestellte Nomadenzelte, die mit Stöcken und Steinen befestigt sind, gewinnen Besuchende einen Eindruck vom früheren Leben der Bewohnerinnen und Bewohner. Darin sitzen Frauen mit Kindern, kochen traditionellen Saharatee und bereiten für sich und für Gäste Couscous zu. Leider haben sie – wie eh und je – mit starkem Wind zu kämpfen.
Das Wetter spielt sein eigenes Festival. Schon am ersten Tag tropft es. Abends spielen Imarhan Timbuktu aus Mali, leider ohne ihren Bandleader Mohamed Issa Ag Oumar – das Konzert ist trotzdem packend. Die rockigen Gitarrenriffs spiegeln die Klänge, wie man sie vom Mali- oder Wüstenblues kennt. Mohamed Issa Ag Oumar ist selbst Tuareg und stammt aus dem kleinem Ort Gargando in der Nähe von Timbuktu. Wüstenpoetisch klingen seine Musik und Texte über Liebe, Exil, Frieden und – Frauenrechte. Der Wüstenblues hat schon viele Musikschaffende inspiriert, so auch die junge Jeunesse du désert Band aus M’hamid, die im Anschluss auftritt. Der Tinariwen-Einfluss findet hier einen modernen, frischen und auch sehr lyrischen Ausdruck. Die Musiker tragen traditionelle Trachten und Turbane, deren Stoffe sie bis über die Gesichter ziehen. Ihre Klänge verwandeln das Konzert in eine besondere Reise: eine rockige Karawane durch die unendliche Wüste.
Am zweiten Tag dringt der Sandsturm pfeifend durch die Fenster und Türen, was die Menschen der Sahara aber nicht daran hindert, ihre Leben zu leben. Außenstehenden kann er aber durchaus Respekt einflößen. Am Nachmittag verführen Folkloregruppen das Publikum mit den Rhythmen traditioneller Tänze, etwa dem Ahidous, einer Tanzform der Berberstämme aus dem Mittleren Atlas. Sie tanzen in zwei Reihen, in der einen weiß gekleidete Männer mit Rahmentrommeln, in der anderen bunt gekleidete Frauen. Die Männer geben den Rhythmus vor und singen dazu. Die Frauen antworten auf diese singenden Rufe und vokalisieren manchmal in einer Weise, die dem Jodeln ähnelt. Dann lenkt die marokkanische Gnawagruppe Pigeons des sables aus Merzouga mit Qaraqib (Gefäßklappern aus Eisen) die Aufmerksamkeit auf sich – die Musiker ziehen durch das Publikum auf die Bühne, wo eine Gimbri das Instrumentarium ergänzt. Mit choralartigen Gesängen und meditativen Bewegungen versetzen sie die Zuhörenden quasi in Trance.
Obwohl Kader Tarhanine aus der Sahel-Saharazone (Mali/Niger/Algerien) als erst aufsteigender Stern der modernen Tuaregmusik angesehen wird, kennt das Publikum seine Lieder auswendig. Musik und Lyrics stammen von ihm selbst – ohne seinen Song „Al Gamra Leila“ lassen die begeistert Zuhörenden ihn nicht gehen. Vor der Bühne tanzt ein blau gekleideter Tänzer mit Turban und weitem, verziertem Gewand. Er schwingt sich barfuß mit ausgebreiteten Armen auf einem gemusterten, roten Teppich und sein Gesicht ist unter den Tüchern nicht zu erkennen – man sieht nur die glänzenden Augen.
Am Festivalsamstag regnet es ordentlich. Die geplante Aktion zur Sensibilisierung für ökologische Belange findet am Morgen trotzdem statt. Die Befreiung eines kleinen Teils der Wüste von Müll stellt ein wichtiges Zeichen dar. Nicht nur in M’hamid und in der Wüste, sondern auch im Atlasgebirge machen sich die Folgen der Umweltverschmutzung stark bemerkbar. Einheimische Jugendliche, Touristinnen und Touristen sowie einige Musikschaffende machen im strömenden Regen mit. Überall wimmelt es von Plastikmüll: Flaschen, Tüten und anderer Abfall. Im Forum der Nomaden dient der Iriqui-See als Beispiel für die Wiederherstellung von Wüstenökosystemen – nach fünfzig Jahren Trockenheit füllte ihn ein starker Regen erneut mit Wasser und Leben. Das Festival legt Wert auf Bildung und die Sensibilisierung der jungen Generation der Umwelt und der Cybersicherheit gegenüber.
Die Jugendlichen aus M’hamid bilden eine harmonische Gemeinschaft und sind in vielen Projekten aktiv. Vor allem stehen sie fest zu ihren nomadischen Wurzeln und ihrer Identität. Ihr enormer Beitrag zum Festival besteht darin, den internationalen Gästen die nomadische Kultur näherzubringen – etwa das Reiten auf Dromedaren oder das traditionelle Backen von Brot in der Glut. Sie spielen ein spannendes Hockeyspiel im Sand und präsentieren dem Publikum zeremonielle Gesänge und Bewegungen. In ihren traditionellen Trachten sehen sie richtig schick aus!
Mohamed Issa Ag Oumar von Imarhan Timbuktu (auch bekannt als Mitglied der Band Tartit) ist, wie erwähnt, nicht persönlich vor Ort, aber auf einem Foto zu sehen. Darauf weist sein Bruder Ousmane Ag Oumar, Gitarrist der Band, hin. „Und das ist meine Schwester.“ Er zeigt er auf eine weitere Fotografie, die unter vielen von berühmten Musikschaffenden an einer Wand hängt, darauf zu sehen Fadimata Wallet Oumar. Sie ist eine Legende und unter dem Pseudonym „Disco“ bekannt. Das Ganze spielt sich in der örtlichen Musikschule ab, wo am Sonntagmorgen die Kinder Gnawarhythmen üben.
Auf dem Gemüsemarkt überrascht ein aufgestelltes Stativ mit zwei Mikrofonen. Es gehört Ismael Moussali, der die Klänge von Orten aufnimmt und sie in einer Onlinesoundbibliothek sammelt (www.imesli.com). „In fünfzig Jahren werden sich diese Orte geändert haben. Sie werden verschwunden sein“, sagt er. Am Abend steht er mit Gitarre auf der Bühne. Er spielt mit Sarah Moussabik in der Band Sarah & Ismael. Musikalisch bewegen sie sich zwischen Amazigh-Folklore, Jazzfunk, Afrobeat und Soul (Amazigh ist die Eigenbezeichnung der indigenen Bevölkerung Nordafrikas). Sarah, mit lieblicher Stimme und großem Charisma, spielt Gitarre und ein Tamburin, auf dem das Amazigh-Symbol des freien Menschen zu sehen ist. Ihr lockiges Haar wirbelt um ihren Kopf, wenn sie sich im Rhythmus der Musik bewegt. Sie demonstriert den traditionellen Tanz der Amazigh und singt in der Amazigh–Sprache. Besonders hervor stechen in einem dynamischen Konzert „Amoudou“ und „Manago“.
Nur zwei Frauen sind an diesem Wochenende auf der Festivalbühne vertreten, die andere neben Moussabik ist die Flötistin und Sängerin Marylou Planchon von der Formation Mîrkut. Bei dieser Band machen sich unterschiedliche Einflüsse bemerkbar wie die nordafrikanische Chaâbi-Musik oder arabische Klänge aus Ägypten, am stärksten aber die kurdische Tradition.
Die legendäre Gruppe Nass El Ghiwane verleiht ihrem Konzert eine mystische Aura. Ihre Musik ist eine Mischung aus Gnawa, Malhun und Chaâbi. Sie gelten als die erste marokkanische Band, die Traditionelles ins Moderne übersetzt hat und werden „marokkanische Rolling Stones“ genannt. Seit ihrer Gründung in Casablanca vor über einem halben Jahrhundert liefern sie musikalisch eine philosophische Nachricht in einer poetischen Fassung, auch über Politik und Soziales. Wenn sie ihre Instrumente wie die Standtrommel Taarija, die Spießlaute Gimbri oder die Rahmentrommel Bendir spielen, stehen die Musiker fest und unbeweglich auf der Bühne. Stattdessen bewegen sich die Musik, die Energie und das mitsingende, quasi hypnotisiert tanzende Publikum.
Der Himmel klart allmählich auf. Es geht auf den Vollmond zu. Am Firmament lässt sich das Sternbild Zentaur teilweise erkennen, während das Kreuz des Südens sich hinter dem Horizont verbirgt. Am letzten Tag scheint nun die Sonne kräftig.
Die gemeinnützige Association Nomades du Monde wurde 2004 ins Leben gerufen. Sie hat es sich zum Ziel gesetzt, das nomadische Erbe zu schützen und zu fördern, die angestammte nomadische Kultur zu unterstützen, ihre Umwelt zu bewahren und wissenschaftliche Forschung zu diesen Themen zu fördern. Im selben Jahr fand auch das erste Festival International des Nomades statt – beides unter der bis heute unveränderten Leitung Noureddine Bougrabs, der sich mit großer Leidenschaft für nomadische Belange engagiert.
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