Wie man in den Wald hineinruft, so schallt es heraus. Dieses Sprichwort hat die traditionelle lettische Gesangsgruppe Saucējas wörtlich genommen und ist auf eine Reise durch die Landschaften ihrer Heimat gegangen, um zu erforschen, wo und wie es herausschallt, wenn man hineinruft.
Text: Daina Zalāne
Über mehrere Jahre haben die Frauen von Saucējas geforscht und ausprobiert, wie gesungene Lieder in natürlicher Umgebung klingen und inwiefern Ort und Tageszeit eine Rolle spielen. Sie bereisten die verschiedenen Regionen und Biotope Lettlands, sie sangen frühmorgens auf Feldern und in Wäldern, sie ließen abends den Klang der Stimme den Hang hinabrollen und aus dem Wald zurückschallen. Sie paddelten mit Booten auf Seen und ließen den Klang sich über das Wasser hinweg ausbreiten.
Eine besondere technische Herausforderung war es, die Lieder in der natürlichen Umgebung aufzunehmen. Dafür engagierten sie einen Ornithologen, der sich auf die Aufnahme von Naturklängen spezialisiert hat, aber auch den Produzenten Gatis Gaujenieks, der große Erfahrung hat im Aufnehmen traditioneller Musik und darin, dabei den Gesang in den Vordergrund zu bringen. Es mussten Orte gefunden werden, an denen kein entfernter Straßenlärm zu hören war, auch überfliegende Flugzeuge waren eine unerwünschte Lärmquelle. Das Schwierigste aber war es, dem Kettensägenlärm der Waldarbeiter aus dem Weg zu gehen. Natürliche Hintergrundgeräusche von Insekten und Vögeln etwa, aber auch von Landvieh wie Hühnern und Kühen sowie ein begleitender Froschchor mussten extra gesucht werden. Dabei waren die Aufnahmegeräte so sensibel, dass ein vorüberlaufender Hund schon wie eine Herde trabender Elefanten klang.
Saucējas sind eine etablierte traditionelle Gesangsgruppe aus Lettland, die der Lettischen Kulturakademie angehört. Die Leiterin des Ensembles, Iveta Tāle, ist Dozentin an der Akademie, und auch die Herangehensweise der Gruppe ist meist akademisch im Hinblick auf Genauigkeit und Tiefe. Dem Ganzen zugrunde liegt aber die unbedingte Liebe zur Tradition, zum traditionellen Gesang und zu einem authentischen Klang. Seit sie sich 2003 zusammenschlossen, haben die Frauen vier Alben in Lettland und einen Konzertmitschnitt in Frankreich herausgebracht. Sie haben viele Länder bereist, sind aber besonders beliebt auf Festivals, bei denen der Bordunklang im Mittelpunkt steht. Zum Beispiel in Georgien, wo ihr Schaffen mit dem berühmten georgischen Bordungesang verglichen wird, oder Sizilien, wo sie mehrfach auf Festivals aufgetreten sind und es auch zu Kooperationen mit sizilianischen Musikerinnen und Musikern kam. Saucējas singen in Konzertsälen, Kirchen und Grotten, jedoch am liebsten draußen in der Natur und überall dort, wo die Akustik ihre Stimmen besonders weit trägt. Ihr Auftritt in einem Rockclub im Rahmen der WOMEX 2019 stellte in dem Zusammenhang eine besondere Herausforderung dar, die die Sängerinnen meisterten, indem sie das Publikum aufforderten, Naturklänge nachzuahmen und damit den Gesang zu begleiten.
Saucejas 2019
Foto: Jānis Romanovskis (gribuvasaru.lv)
Der Name Saucējas bedeutet in der Tradition eigentlich so viel wie „Vorsängerinnen“. Meist ist die „Saucēja“ jedoch die Solistin, eine einzelne Stimme, in die eine beliebige Zahl von Mitsängerinnen einstimmt. Die Saucēja „ruft“ das Lied vor und die anderen Sängerinnen folgen, indem eine Strophe wiederholt, mit anderen Stimmen verziert oder auch mit einem Bordunton untermalt wird.
In ihren Programmen wenden sich Saucējas meist der Gesangstradition einer speziellen lettischen Region zu und erforschen diese gründlich. Dazu gehört das genaue Erlernen der Aussprache der Dialekte und der jeweiligen Art zu singen. Am Anfang haben die Mitglieder von Saucējas auch von da noch lebenden alten Sängerinnen gelernt – nicht nur das Repertoire, sondern auch die Art und Weise, wie die Stimme benutzt wird, wie das gemeinsame Singen erfolgt und welche Rolle jede Stimme in einem Lied einnimmt.
Aus dem neuen Album Dabā („In der Natur“) ist ein komplettes Buch mit Doppel-CD geworden. Es enthält sechzig Lieder aus verschiedenen Regionen Lettlands, die in unterschiedlichen natürlichen Umgebungen aufgenommen wurden. Im Buch finden sich ausführliche Berichte über das Zustandekommen der Aufnahmen, und es thematisiert die traditionellen Lieder – die Dainas –, die sich mit dem Singen auseinandersetzen.
Saucejas 2019
Foto: Jānis Romanovskis (gribuvasaru.lv)
In Lettland gibt es viele Lieder über das Singen, in denen geschildert wird, wie der Gesang am Morgen und am Abend klingt, wie die Stimme über die Wipfel der Wälder hinwegschallt, und insbesondere wer den Gesang über einen See hinweg oder am anderen Ufer eines Flusses hören kann. Gesang hatte ursprünglich eine ganz praktische kommunikative Funktion – Hirten konnten sich untereinander mit besonderen Rufen über große Entfernungen verständigen und auch ihr Vieh zurückrufen. Im Frühling, solange das Laub der Bäume den Klang noch nicht beeinträchtigte, versammelten sich Mädchen auf Hügeln und sangen über die Felder und Wälder hinweg, woraus sich ein regelrechter Wettbewerb darüber entspann, wer den Ton am besten halten konnte, wer zur Vorsängerin taugte, wer mitziehen oder die Verzierungen einer Melodie übernehmen konnte.
Die Gemeinsamkeit dieser Art zu Singen war, dass es draußen in der Natur stattfand. Nur selten ist vom Singen in Innenräumen die Rede, weshalb der Winter meist eine leisere Zeit war – zum Rätselraten und Geschichtenerzählen an langen Winterabenden. Im Frühjahr aber wird in den Liedern buchstäblich die Gesangsstimme von den Wäldern zurückverlangt, weil für den Sommer die gesammelten Liederknäuel entwirrt, die Liedertruhen geöffnet und alle Lieder an die frische Luft und zum Klingen gebracht werden müssen. Auch der Ursprung der Lieder wird oft in der Natur gesucht – sie werden von Bienen, verschiedenen Singvögeln, der mythologischen Wald- und Windmutter an die Sängerin weitergegeben. Ein beliebter Aufbewahrungsort für die Liedersammlungen sind Bäume und Büsche. Dadurch wird der zyklische Austausch zwischen der Sängerin und der Natur als akustischer Raum dargestellt. Um die Stimme über weite Entfernungen hinweg erklingen zu lassen, begibt sich die Sängerin auf einen Berg oder an den Waldesrand und nimmt auch den Wind zu Hilfe.
Saucejas 2019
Foto: Jānis Romanovskis (gribuvasaru.lv)
Macht man sich nun bewusst, wie (Live-)Musik und Gesang heutzutage gehört und erlebt werden, stellt man fest, dass dies normalerweise in Konzertsälen und vergleichbaren Räumlichkeiten geschieht. Bei Open-Air-Festivals und -Konzerten benötigt man Mikrofone und aufwendige Verstärker, um dem Publikum die Musik zu Gehör zu bringen. Auf Tonträger gebannte Musik ist meist in Studios aufgenommen, wo die Töne durch Mix und Mastering manipuliert werden, um Perfektion zu erlangen. Aber was wirklich lebendiger, unverstärkter Gesang in einer natürlichen Umgebung ist, ohne spezielle Bühne und mit allen natürlichen Hintergrundgeräuschen, können wir uns nur noch sehr schwer vorstellen. Obwohl dies vor hundert Jahren noch die herkömmlichste Art war, Musik und Gesang zu hören.
Im Sommer 2020, zwischen den beiden ersten Coronawellen, als kleinere, begrenzte Veranstaltungen möglich waren, nutzten Saucējas die Gelegenheit, diese Art, in natürlicher Umgebung zu singen, vor Publikum zu präsentieren. Das Konzert fand auf dem Landgut der Autorin statt, das in einer hügeligen Landschaft mit Wiesen und Wäldern in der Region Vidzeme im Westen Lettlands liegt. Dort fanden auch teilweise die Aufnahmen zum Album statt, weil die örtlichen Gegebenheiten sich dafür anboten – es gibt keine industriellen Hintergrundgeräusche oder Verkehrslärm, eine gute Akustik, und man kann vom Hügel über eine Wiese in den Wald hineinrufen und singen. Es gibt auch eine benachbarte kleine Landwirtschaft mit Vieh und Hühnern, die bei Bedarf für die nötige Untermalung sorgen konnte.
Die Veranstaltung war alles andere als eine klassische Konzertsituation mit Bühne und sorgsam aufgereihten Zuschauerplätzen. Vielmehr bewegten sich die Sängerinnen in der Landschaft, teilten sich in Gruppen auf und sangen über Wiesen hinweg gegeneinander, auch der Teich wurde als akustischer Raum genutzt. Das Publikum musste sich mit den Musikerinnen über das Gelände bewegen und sich in verschiedenen Abständen platzieren, um dem Klang und dem Widerhall folgen zu können. Es stellte sich heraus, dass man bei bestimmten natürlichen Gegebenheiten auch aus beträchtlicher Entfernung jedes gesungene Wort hervorragend verstehen kann. Insgesamt erwies sich die Veranstaltung für die Sängerinnen wie für die Zuhörerinnen und Zuhörer als eine einzigartige Konzerterfahrung, die in Mitschnitten unmöglich naturgetreu wiedergegeben werden kann. Auf die Tragweite des Gesangs kann man aber zum Beispiel daraus schließen, dass im Winter zufällig getroffene Nachbarn, die kilometerweit entfernt wohnen, noch von dem einen Sommerabend erzählten, an dem sie den Gesang hören konnten. Wobei nochmals betont sei, dass keinerlei elektronische Verstärker zum Einsatz kamen.
Im Anschluss an die Veröffentlichung des Albums und des Buches sind auch für den Sommer 2021 mehrere Konzerte in verschiedenen natürlichen Umgebungen in Lettland geplant. Und es steht zu erwarten, dass dies zu jeweils neuen musikalischen und klanglichen Erfahrungen für alle Beteiligten führen wird.
Aufmacher-Foto:
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