Weisheiten vom Ältestenrat

Ein Bericht von der 24. Southwest Regional Folk Alliance, Holiday Inn Austin Midtown, Austin, Texas, USA, 27.9.-1.10.2023

15. Dezember 2023

Lesezeit: 6 Minute(n)

Folk ist auch in den USA kein Selbstläufer. Die Szene lebt nur, wo Enthusiasten sich zusammentun und etwas auf die Beine stellen. Die Southwest Regional Folk Alliance (SWRFA) ist so eine gemeinnützige Organisation, die sich zum Ziel gesetzt hat, Folktraditionen in der eigenen Region zu stärken. Region ist dabei in amerikanischen Dimensionen zu denken: Sie umfasst Arizona, Colorado, New Mexico, Oklahoma, Texas, und auch Gäste sind willkommen. Jedes Jahr veranstaltet die SWRFA eine Konferenz im texanischen Austin. Mehrere hundert Musikschaffende, Radio-DJs, Veranstaltende und Fans kommen zusammen, um sich über Folkmusik in den genannten Bundesstaaten auszutauschen, miteinander zu musizieren und Geschäftskontakte zu knüpfen. In diesem Jahr war auch der folker vor Ort.
Text: Martin Wimmer (Zu einer englischen Fassung des Beitrags geht es hier.)

Das Programm ist umfassend. Musik gibt es rund um die Uhr – offizielle Konzerte in den größeren Sälen, Open Mics am Pool und in einer Kneipe sowie von den Künstlerinnen und Künstlern selbst organisierte Showcases in kleineren Konferenzräumen und auf den Hotelzimmern. Dazu Vorträge, Workshops, Lehrgänge und Podiumsdiskussionen zu „Erzählen im Songwriting“ oder „Experimentieren mit offenen Stimmungen und 3-Saiten-Capos“, zu „Diversität und Inklusion“ oder „Hauskonzerte und Firmenevents buchen“.

Nathan Brown mit Eileen „Chick“ Morgan (Foto: © Martin Wimmer)

Nathan Brown, Songwriter und Poet Laureate von Oklahoma 2013/14, bietet zur Frage „Die Leute haben keine CD-Player mehr, was soll ich am Merch-Stand verkaufen?“ einen Workshop, von dem auch deutsche Musikschaffende profitieren könnten, die das Problem gut kennen – CDs sind auch bei uns heute meist nur noch teure Visitenkarten zum Verschenken. Brown dagegen gibt zwar Konzerte, macht das Geld aber mit seinen Büchern. „Songtexte und Gedichte, Kurzgeschichten oder Skizzen liegen nah beisammen“, sagt er. „Ein schön gemachtes Buch ist für Liedermacher eng am Markenkern und eine wertige Erinnerung, die Besucher gern mitnehmen.“ Mittlerweile verlegt er solche Künstlerbücher erfolgreich auch für Kollegen wie Rod Picott, Jonathan Byrd oder Adam Carroll, am erfolgreichsten ist die humorvolle Charles-Bukowski-Hommage, die er mit Jon Dee Graham verfasst hat.

Albumcover Aaron Smith & The Coal Biters (Foto: Promo)

Ein weiteres Beispiel präsentiert Aaron Smith, der sein neues Konzeptalbum mit den Coal Biters, The Legend Of Sam Davis, als wunderschön gemachtes 90-Seiten-Hardcover-Buch mit CD für sechs Dollar Stückpreis in Asien produzieren ließ und für zwanzig verkauft. Ob er den Aufwand noch mal betreiben würde? „Es lohnt sich, wenn der Stoff es hergibt“, meint Smith. „Die Fans erkennen den Mehrwert des aufwendig recherchierten Materials zum nur gestreamten Song.“ Das Fazit der beiden: „Selfpublishing boomt, hat keinen schlechten Ruf mehr, öffnet Kulturschaffenden ganz neue Türen und liefert noch echte Margen. Nicht im großen Markt, aber in den Nischen.“

„CDs sind auch bei uns heute meist nur noch teure Visitenkarten zum Verschenken.“

Fast alle Teilnehmenden treffen sich Donnerstagabend um 18.00 Uhr am Pool des Holiday Inn Midtown Austin. 63 Songwriter haben ihr Los in den Hut geworfen. John Whipple zieht, ruft jeweils drei von ihnen auf, und nacheinander gehen sie auf die Bühne und spielen je einen Song. Moderator, Conférencier und Stagemanager in einem, kümmert Whipple sich um die Gesundheit seiner Gäste, indem er Tequila auf ein Tuch schüttet und damit das Mikro reinigt. „Entweder aufs Mikro oder Mund ausspülen“, bietet er an. Geht schon rustikal zu hier in Texas.

John Whipple (Foto: © Martin Wimmer)

Vor den Augen von Altmeister George Ensle spielen alle ihr bestes Lied. Manche setzen auch auf Unterhaltung und bringen die Leute mit lustigen Songs zum Lachen. Fast alle klassisch allein mit Gitarre, nur Einzelne mit Banjo, einem Piano oder etwas Percussion. Viel countryeskes Storytelling, aber auch Abstecher in Bar Jazz und Adult Pop. Akustische, handgemachte Musik für laue Abendstunden am Pool.

George Ensle (Foto: © John Whipple)

Die Texte handeln von harter Arbeit, Kuchen, Selbstmord, Hunden, Feminismus, Cowboys und der Liebe. Das pralle Leben also. Und noch eine Lehre, die sich auch so mancher Neuling in Deutschland hinter die Ohren schreiben kann: Für alle, die immer noch nicht verstanden haben, dass das Geschäft ohne Marketing nicht läuft, hebt ein Gast jedes Mal, wenn wieder jemand vergisst sich vorzustellen, ein Schild hoch: „What‘s your name? Paul Barker wants to know.“ Dem folker hat das sehr geholfen.

Hier ein Dutzend Entdeckungen des Festivals zum Nachhören für neugierige Leserinnen und Leser:

 

Roxi Copland, die Quirlige. Frisch zurück vom Radfahrurlaub in Bayern, spielt die Instagrammerin aus Austin authentischen, pianolastigen Country – „I Come From Crazy“.

Emily Hicks, Typ Hippietramperin aus Utah mit der viel zu großen Gitarre auf dem Rücken. Hat mit „Breathe“ zusätzlich eine brandneue Topsingle im Gepäck, auf die Carole King stolz wäre.

Natalie Price, die Burschikose. Beherrscht die Bühne mit natürlicher Autorität, wo andere auf Attitüde setzen. Auf ihrem neuen Album gastieren unter anderem David Ramirez („What We Daydream Now“) und Jaimee Harris.

Rachel Laven, die Bissige. „Geh mir weg mit Städten, in denen es mehr Kirchen als Bars gibt“, macht sie in „Don’t Put Me In A Town“ eine klare Ansage.

„Geh mir weg mit Städten, in denen es mehr Kirchen als Bars gibt.“

Aleksi Campagne, der Zweisprachige. Sohn der kanadischen Folklegende Connie Kaldor. Teufelsgeiger und jazziger Sänger („Head Above Water“) in einem. Immer mit Ahornsirup aus der Heimat unterwegs, den er gern an Fans verteilt.

Barbara Jarrell, die LGBTQI-Aktivistin („Not Particularly New“), und Flamy Grant, die Dragqueen („I Think I See The Island“). Beide Gewinner des Newcomerwettbewerbs beim Kerrville Folk Festival 2023, treten sie damit in die Fußstapfen von Tom Russell, Robert Earl Keen, John Gorka, Lucy Wainwright-Roche oder Anaïs Mitchell und halten diese Qualität.

Sean Harrison aus Arkansas-Nord, „da wo die Wälder sind, nicht aus dem Süden bei den Baumwollfeldern“, wie ihm wichtig ist zu betonen. Würde „wahnsinnig gerne mal in Deutschland spielen, sag den Veranstaltern dort mal Bescheid“. Was hiermit erledigt ist. Zu hören gäbe es dann angerockte Americana mit witzigen Texten. Letzte Single: „Living On Mars Is Really Gonna Suck“.

Sam Robbins, sympathischer Junge. Spielt jungen Coffeehouse-New-Folk und baut auch mal ein Joni-Mitchell-Zitat ein. Lästert ein bisschen über New York und ist sich sicher, dass es hier in Texas schon schöner und die Leute netter seien. „Wouldn’t Change A Thing“. Viel Applaus.

Ellerieh Lin: Wer mit einer transparenten Gitarre voll auf Effekt setzt und dann auch noch mit manieriertem Gesang weit von der Norm loslegt, sollte besser sehr gute Texte haben, um die Erwartung nicht zu unterlaufen. „I’m Gonna Marie Kondo You“. Bam, der hat tatsächlich gesessen.

Antonio Lopez, der Moderne. „The Future Is Now“, singt er und unterstreicht das mit einer coolen, bluesigen Nummer, die sich durch zeitgemäßes Arrangement deutlich vom klassischen Format absetzt.

Pam Grisham hat sich Unterstützung mitgebracht. Ihre Begleitmusikerin Kelly Moore am Banjo sitzt im Rollstuhl. Groß thematisiert wird das nicht („Without Using Words“).

Generell werden Inklusion und Diversität auf der Konferenz großgeschrieben: Rollstühle, Rollatoren, Gehhilfen, ein Blinder, alles wie selbstverständlich Teil des Geschehens. Frauen sind eh mehr da als Männer. Alle Arten sexueller Orientierung werden offen zur Schau gestellt. Aber, und auch das gehört zur Wahrheit: People of Color sind auf der Bühne und im Publikum nur sehr vereinzelt zu erkennen.

Dalis Allen mit Tom Prasada-Rao (Foto: © Neale Eckstein)

Zum Abschluss der Konferenz tagt das ironisch „Weisheiten vom Ältestenrat“ betitelte Panel, das 2000 erstmals stattfand und damals mit Legenden wie Oscar Brand, Theodore Bikel und David Amram besetzt war. Dieses Jahr dabei: Meredith Carson, Rich Warren, Jay Boy Adams und Dalis Allen.

Plakat der Southwest Regional Folk Alliance 2023

 

Letztere gründete vor 23 Jahren die Southwest Region der Folk Alliance. Seit 1995 nimmt sie an der International Folk Alliance Conference teil. Von 2002 bis 2019 war sie Produzentin des Kerrville Music Festivals in Texas. Sie begann ihr Engagement in der Musikbranche aber schon in den Sechzigern, als sie damals unbekannte Künstler und Künstlerinnen in das Café der Uni von Houston buchte. Lightnin’ Hopkins, John Denver, Judy Collins, Steve Earle, Nanci Griffith, Eric Taylor, Lyle Lovett, Townes Van Zandt und Guy Clark und viele mehr fanden dank ihr ein Publikum in der texanischen Studentenschaft. Ihre Leidenschaft gilt nach wie vor dem echten Folk, denen, die noch unter der Wahrnehmungsschwelle des Marktes liegen. Ein Vorbild, das weit über den Südwesten der USA hinaus resoniert.

Links:

Offizielle Website der SWRFA mit Links zu den Websites der wichtigsten Künstler: www.swfolkalliance.org

Videokanal der Gypsy Wagon Studios mit zahlreichen Mitschnitten der SWRFA 2023: www.youtube.com/@gypsywagonstudios

Playlist mit Songs fast aller Künstlerinnen und Künstler des Festivals: https://spotify.link/LMnO4tAWIDb

Website von Nathan Browns Musikbuchverlag inklusive Übersicht der von ihm verlegten Songwriter: www.mezpress.com/artists

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