Eine andere Frage, nämlich die, ob es bei dem Projekt mehr um die unterschiedlichen Musikkulturen oder um die Entstehung einer neuen, europäischen Folkmusik geht, beantwortet Gudrun Walther so: „Uns reizt beides – es sind ja letztlich verschiedene Seiten derselben Medaille. Natürlich muss man erst einmal nach Gemeinsamkeiten suchen, um überhaupt musikalisch einen Ausgangspunkt zu haben. Diese Gemeinsamkeiten können sowohl im Grob- als auch im Feinbereich liegen, zum Beispiel bei gemeinsamem Repertoire oder gemeinsamen Bezugspunkten. Es kann aber auch einfach die Art sein, wie man mit jemand zusammenspielt – Phrasierung, Empathie oder ähnliche Vorstellungen von Dynamik. Sobald man die Gemeinsamkeiten lokalisiert hat, kann man darauf aufbauen, indem man sich auf die Unterschiede konzentriert und die Ohren spitzt: Was war das für eine Verzierung? Warum klingt das ‚typisch skandinavisch‘? Was ist der Unterschied zwischen einer englischen und einer irischen Hornpipe? Und so weiter. Im besten Fall lernen alle Beteiligten voneinander und bewegen sich aufeinander zu, immer mit dem Ziel, gemeinsam etwas zum Klingen zu bringen, was größer ist als die Summe der einzelnen Bestandteile.“
Klar wird beim Hören des Albums, dass hier durchaus etwas Neues entsteht, eine grenzüberschreitende Folkmusik, die sich aus verschiedenen Wurzeln nährt, aber dennoch eine gemeinsame Krone zu bilden beginnt. Das Projekt ist natürlich nicht alleiniger Urheber dieser Entwicklung, sondern sie verdankt sich schon vielen früheren Begegnungen mit wechselseitiger Beeinflussung. So kommt einem manchmal der kritische Unterton zu Ohren, die deutsche Volksmusik etwa ihrer Band Deitsch klinge dem einen oder der anderen zu irisch. In der Tat ist die Praxis, Tanzmelodien zwischen den Strophen eines Liedes zu spielen oder einen Reel im Stil aus Quebéc im Deutschfolk beheimaten zu wollen, eines der Markenzeichen des pfälzisch-schwäbischen Duos, das andere ansteckt. Die oft beschworene Symbiose von Tradition und Moderne zeigt sich bei Walther und Treyz nicht, indem sie Folkrock oder Folkpop produzieren, sondern indem sie durch Europa reisen, Folkmusikern und -musikerinnen in ihren eigenen Ländern begegnen, Freundschaften schließen, und so fast wie von selbst Fusionen hervorbringen. Eine gemeinsame europäische Musiktradition finden sie dabei auch in der Klassik, in der einige der Beteiligten professionell ausgebildet sind.
Außer den beiden Coverversionen „When I’m Gone“ von Phil Ochs und „Aragon Mill“ von Sí Kahn sind alle Lieder auf Deutsch, gesungen von Gudrun Walther und/oder Albin Paulus, sodass der Deutschfolkanteil überwiegt, was die Texte angeht. Die dänischen, schottischen, englischen und irischen Anteile liegen eher in der Instrumentalbegleitung oder eben den Instrumentalstücken. Aber auch diese tragen sehr deutlich die Handschrift von Walther und Treyz, sodass sich die Musik harmonisch in die ihrer anderen Bands und Projekte einfügt. Am ehesten repertoireerweiternd dürfte das Jodeln sein. Das hört sich geradezu am Exotischsten an, obwohl von der geografischen Herkunft her am wenigsten weit entfernt von der süddeutschen Heimat der beiden. Albin Paulus ist hier zwar der Meister, aber auch Jodelschülerin Gudrun Walther merkt man es nicht an, dass es eine für sie neue Gesangstechnik ist.
Schließlich gibt es auf dem Album zwei Ensembleaufnahmen, bei denen alle zusammenspielen. Die eine davon, „Falkenlied/Ziemetshauser Nr. 33“, ist ein Lied mit Zwischenspiel, teils traditionell, teils von Walther und Treyz geschrieben. Dieses Zusammespiel klingt schon, als sei es eine Band. Man darf gespannt sein, was noch aus dem Projekt erwächst.
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