Community Music ist eines der derzeit brennendsten Themen in der Musik. Dabei haben die überall auf der Welt aus dem Boden sprießenden Projekte einen gemeinsamen Effekt: Sie halten der westlichen Welt und vor allem Europa einen Spiegel über ihre koloniale Vergangenheit und ihre selbstzentrierte Sicht vor. Darin liegt eine große Chance für eine geeinte Welt aller Kulturen.
Text: Erik Prochnow; Aufmacherforto: Brass For Africa auf dem LAB-Uganda-LKW in der BidiBidi-Siedlung (© Geoffroy Schied)
Global denken, lokal handeln. Dieser 1992 auf der UN-Konferenz in Rio de Janeiro beschlossene Slogan für eine weltweite nachhaltige Entwicklung entpuppt sich längst auch als treffendes globales Motto der Community-Music-Bewegung. Denn die Möglichkeiten, unabhängig von der eigenen wirtschaftlichen Situation und sozialen Merkmalen zu musizieren, stärken nicht nur den freien Ausdruck und die Integration Einzelner, sie fördern gleichzeitig ein globales Verständnis für Demokratie und Menschenrechte. Vor allem aber hinterfragen die unzähligen Projekte auf den verschiedenen Kontinenten die oft noch immer vorherrschende selbstzentrierte Sicht der westlichen Welt. Gerade Community Music rüttelt an der vermeintlichen akademischen Überlegenheit der sogenannten weißen, oft christlich geprägten Kulturen, allen voran der Großbritanniens, wo die Bewegung in ihrer modernen Form in den Sechzigerjahren ihren Ursprung nahm.
„Community Music ist ein Katalysator für Widerstand, kulturelle Belebung und Nachhaltigkeit.“
Längst zeigt sich in den Community-Music-Projekten, dass andere Kulturen eine eigene, völlig andere Sichtweise auf die Welt sowie das Zusammenleben haben und Europa viel davon lernen kann. Vielerorts werden die lokalen Organisationsteams sogar noch deutlicher: Community Music sei ein Katalysator für Widerstand, kulturelle Belebung und Nachhaltigkeit im globalen Süden, der das europazentrierte Paradigma herausfordere, heißt es da nicht selten.
„In vielen indigenen Kulturen Australiens gibt es kein Wort für Musik. Denn für diese Menschen existiert Musik nicht für sich allein, so wie wir es im westlichen Kontext verstehen“, sagt Brydie-Leigh Bartleet, Professorin an der Griffith-Universität in Queensland und eine der weltweit führenden Community-Music-Expertinnen. Für diese Völker sei der in England entwickelte interventionistische Ansatz in Form von Community Musicians, die als sogenannte „Facilitators“ bestimmte Situationen für das gemeinsame Musizieren kreieren, daher schwer nachvollziehbar. „Für diese Menschen ist Musik mit allem verbunden – den Bäumen, der Natur, den Tieren, den Vorfahren und den Liedern, die sie wie eine Karte auf ihrem Weg durch die Welt führen“, erläutert Bartleet. Entscheidend seien daher nicht Einzelne, sondern das Schaffen von Räumen, in denen alle teilnehmen können und die gemeinsamen kulturellen Wurzeln belebt werden.
Die australische Professorin schätzt durchaus die Vorreiterrolle Großbritanniens bei der Entwicklung der Community Music. Die Bewegung war eine Antwort auf die rigiden gesellschaftlichen Strukturen Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts und wurde zum Medium für Kritik an den Machtverhältnissen. Großbritannien war auch das erste Land, in dem Community Music als feste Institution verankert wurde. Bereits 1991 gründete sich die Organisation Sound Sense als Interessenvertretung der britischen Community Musicians. Außerdem kann das Fach seit Beginn der Neunziger an britischen Universitäten, allen voran der St. John’s University in York studiert werden. „Doch Community Music ist global gesehen nicht so homogen, wie der britisch zentrierte Ansatz es vorgibt“, merkt Bartleet an. Jede Kultur sei nicht nur anders, sondern sehe sich auch ganz unterschiedlichen Herausforderungen ausgesetzt. Deshalb sei Community Music im asiatisch-pazifischen Raum nicht institutionalisiert und von einer großen Vielfalt geprägt. Bartleet: „Wir können insbesondere von den musikalischen Traditionen, dem in den Liedern eingegrabenen Wissen und dem kreativen Instrumentenbau lernen, was Gemeinschaft bedeutet.“ Projekte in China, Japan oder bei den Maori in Neuseeland definieren Community Music völlig anders als die Aktiven in Europa. Dabei geht es zu allererst um Teilhabe und Integration benachteiligter Gruppen. Gemeinsam ist allen Projekten aber immer auch eine große Sensibilität für ethische Fragen wie die der Kolonialisierung und Unterdrückung vor allem durch europäische Länder. So unterstützt in Australien die soziale Organisation Grow The Music Musikschaffende indigener Völker wie der Aborigines, benachteiligte Minderheiten wie Filipinos oder gefährdete Jugendliche bei Community-Music-Projekten, etwa dem Aufbau von Chören. Die Initiative The Song Room wiederum bietet seit über 25 Jahren Musikunterricht für sozial benachteiligte Kinder. Und im Projekt „Park ’n’ Songs“ bringt dagegen die Professorin Melissa Forbes von der University of Southern Queensland seit 2017 mithilfe von Community Musicians Parkinson-Betroffenen und ihre Angehörigen jede Woche zum gemeinsamen Singen zusammen.
Auch in den USA liegt Community Music in der Verantwortung lokaler Gemeinden und Städte oder privater Initiativen. Das gemeinschaftliche Musizieren ist zwar im ganzen Land seit dem neunzehnten Jahrhundert bekannt und spielte etwa eine gewichtige Rolle im Kampf der Bürgerrechtsbewegung für die Abschaffung der Rassengesetze. „Dennoch ist die Bezeichnung ‚Community Music‘ kein geläufiger Begriff“, sagt Don Coffman, Professor für Musikalische Bildung und Musiktherapie an der University of Miami in Florida und Chefredakteur des International Journal of Community Music. Ein prämiertes Vorreiterprojekt auf lokaler Ebene ist etwa das Programm der Organisation Community MusicWorks in Providence, Rhode Island. Seit 1997 fördert es Schülerinnen und Schüler aller sozialen Schichten mit kostenlosen Instrumenten, Unterricht, Ensemblespiel und Konzerten durch professionelle Musikschaffende.
„Es ist dieses vernetzte Denken, das Räume für ein Miteinander schafft und echte Gemeinschaft bedeutet.“
Im Gegensatz dazu orientiert sich Kanada bei der Community-Music-Praxis eher an Europa. So gibt es an der Wilfrid Laurier University in Waterloo, Ontario, nicht nur seit 2013 einen Master- und einen Doktorandenstudiengang, die Hochschule, die 2010 auch ein eigenes Forschungszentrum zu dem Thema eingerichtet hat, bietet seit 2016 zudem ein spezielles Bachelorstudium in Community Music und Musiktherapie an. „Wir bringen hier Studierende und Lehrende aus der ganzen Welt zusammen, die die verschiedensten Traditionen und Musikstile vereinen“, sagt der Architekt der Ausbildungsgänge, Professor Lee Willingham, der mit seiner Hochschule damit in Nordamerika Maßstäbe setzt. Was bestimmte Community-Music-Projekte betrifft, geht Kanada auch hier voran. Berühmtheit hat etwa die aus Ontario stammende, indigen-irischstämmige Wissenschaftlerin Kelly Laurila mit ihrem Versöhnungsprojekt erlangt. Dabei brachte sie indigene Frauen eines Trommelkreises, die jahrelang unter der kanadischen Rassenpolitik gelitten hatten, und weiße Staatsvertretende eines Polizeichores zusammen, was vorher unvorstellbar schien. „Laurila hat unsere Programme dekolonialisiert und auch dazu beigetragen, dass wir 2024 zum dritten Mal das Grand River Black Music Festival in unserer Stadt abhalten konnten, das die besten schwarzen Musiker Kanadas auf die Bühne bringt“, ist Willingham über die Effekte der Community Music begeistert.
Vom Engagement Einzelner hängt auch in Südamerika der Erfolg von Community-Music-Projekten ab. In der kolumbianischen Organisation Sonido Colectivo zum Beispiel haben sich 2021 Universitätsdozierende zusammengeschlossen, um an verschiedenen Orten des Landes Menschen durch Musik und Tanz zusammenzubringen. Ihr Ziel ist es, menschliche Potenziale zu entwickeln und durch Musik Reflexion etwa über die gewaltsame Geschichte des Landes zu fördern. So verfolgt die Initiative drei Schwerpunkte: die Versöhnung zwischen Tätern und Opfern jahrelanger bewaffneter Bürgerkriegskonflikte, die Belebung der sozialen Strukturen in ländlichen Gebieten und das Schaffen einer vertrauensvollen Basis für langfristigen Frieden im Land.
In Afrika wiederum entstehen Community-Music-Projekte verstärkt durch ausländische Unterstützung. Das fünfköpfige Managerinnen- und Musikschaffendenteam des Vereins Music Connects aus Unterföhring etwa organisiert in Zusammenarbeit mit der NGO Brass For Africa die Initiative LAB Uganda in einer der größten Flüchtlingssiedlungen der Welt, BidiBidi, nahe der südsudanesischen Grenze – dort leben 210.000 Menschen. LAB Uganda besteht aus einem maßgefertigten LKW mit Bühne, Aufnahmestudio, kleinem Kino und Instrumenten. Mit ihrem Gefährt erreichen die Aktiven jeden Winkel des 250 Quadratmeter großen Lagers, um vor allem Jugendlichen einen kulturellen Anker und zweimal pro Woche eine musikalische Ausbildung zu bieten.
Mit Erfolg. Heute sind in BidiBidi sechzehn Blaskapellen zu hören, die weder Stammes- noch Geschlechtertrennung kennen. Ein anderes Projekt für Jugendliche unterstützt der deutsche Verein Ubuntu for Africa in Südafrika. Dem Sakhisiswe Youth Development Project hat die Organisation ein Aufnahmestudio inklusive Instrumente geschenkt, das intensiv genutzt wird. „Wo es eine Gemeinde gibt, gibt es auch Community Music“, sagt auch Sebit Martin, Executive Director des Community Development Centre in Arua im Nordosten Ugandas. 2014 hat er das Zentrum mitbegründet mit dem Ziel, den sozialen, kulturellen und wirtschaftlichen Zusammenhalt in Gemeinden zu fördern. Als wichtiges verbindendes Element sieht er dabei die Musik. Martin: „Musik motiviert die Menschen, Unterschiede anzuerkennen, sie wertzuschätzen, sich mit anderen zu identifizieren und sich gegenseitig zu unterstützen.“
Dass sich diese integrierende Grundhaltung bereits auf europäische Projekte auswirkt, zeigt die soziale Organisation Metamorphonics. Unter deren Dach hat die isländische Initiatorin Sigrún Sævarsdóttir-Griffiths seit 2012 sieben außergewöhnliche Ensembles und Orchester in England und Island gegründet. Startpunkt war die Gruppe The Messengers in Guildhall, wo die Musikerin und Komponistin seit 1999 als Dozentin der renommierten School of Music & Drama tätig ist. Das Besondere an ihren Ensembles ist die Verbindung professioneller Musikschaffender und Musikstudierender mit absoluten Neulingen und Menschen mit Erkrankungen oder aus sozial prekären Situationen. Während zu den Mitgliedern der Messengers zum Beispiel Obdachlose zählen, spielen im 35-köpfigen isländischen Orchester Korda Samfónia neben Mitgliedern des Icelandic Symphony Orchestra auch 17 Menschen aus Rehabilitationszentren, die etwa unter Burnout, Kindheits- oder Posttraumata leiden. Die Ensembles musizieren und improvisieren nicht nur zusammen, sie komponieren auch gemeinsam künstlerisch anspruchsvolle Vokal- und Instrumentalstücke. Für die australische Expertin Brydie-Leigh Bartleet ist es genau das, was Community Music auszeichnet: „Es ist dieses vernetzte Denken, das Räume für ein Miteinander schafft und echte Gemeinschaft bedeutet.“
Aufmacher:
Links:
- www.cdc.ngo/the-centre
- www.communitymusicworks.org
- www.grandriverblackmusic.com
- www.growthemusic.org
- www.isme.org/our-work/commissions/community-music-activity-commission-cma
- www.metamorphonics.co.uk
- www.musicconnects.world/de/uganda/projekt
- www.sakhisizweydp.com
- www.songroom.org.au
- www.sonidocolectivo.com
- www.soundsense.org
- https://students.wlu.ca/work-leadership-and-volunteering/experience-record/assets/experience-guides/music/community-music.html
- www.wlu.ca/programs/music/graduate/community-music-ma/index.html
- www.yorksj.ac.uk/research/international-centre-for-community-music
- Spendenlink der Initiative Music Connects (auch für Instrumente): www.musicconnects.world/en/donate
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