Plötzlich ist da eine Resonanz

Musizieren in einer totalen Institution

11. Juni 2025

Lesezeit: 4 Minute(n)

Musik in der Psychiatrie hat eine jahrtausendealte Geschichte. Mit Ritualen aus schamanischen Kulturen oder Heilzeremonien in Tempeln wurden die Krankheit verursachenden bösen Geister lautstark vertrieben. Dämonen aus brauner Vergangenheit treiben noch heute in Einrichtungen des Strafvollzugs ihr Unwesen. Darauf kann Community Music eine lautstarke und nachhaltige Antwort sein.

Text: Sandra Sinsch-Gouffi; Foto: Carina Emig, MDR

Musik sollte im antiken Griechenland nicht nur die Seele, sondern auch den Charakter reinigen und somit den idealen Staatsbürger formen. Eine Idee, die von preußischen Bildungsreformen im neunzehten Jahrhundert begeistert aufgegriffen wurde. Daher etablierte sich auch in deutschen Gefängnissen und forensischen Abteilungen eine gesetzlich vorgeschriebene Musizierpraxis. Davon sind forensische Einrichtungen in Deutschland heute weit entfernt. Der Maßregelvollzug, wie die Einrichtung für psychisch kranke Rechtsbrecherinnen und Rechtsbrecher genannt wird, ist eine hermetisch abgeschlossene Welt, über die jenseits hoher Mauern fast nichts bekannt ist. Psychisch kranke Menschen sind nicht gefährlicher als gesunde, aber in Verbindung mit Drogen oder schwierigen sozialen Situationen kann es zu aggressivem Verhalten und somit Delikten kommen. Wer aufgrund einer Erkrankung zum Tatzeitpunkt schuldunfähig war, wird auf unbestimmte Zeit in der Forensik untergebracht.

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Eine seit 1933 nur notdürftig reformierte Institution

Die Behandlung besteht traditionell aus Pharmako- und Psychotherapie, arbeitstherapeutischen Maßnahmen und Sport. Die deutschsprachige forensische Fachliteratur erwähnt Musizieren selten. „Arbeit geht vor. Die sollen was Ordentliches machen und kein Singen und Klatschen …“ – das ist selbst nach fast vier Jahren meiner therapeutisch-pädagogischen musikalischen Arbeit im Maßregelvollzug Uchtspringe immer noch zu hören. Das Schattendasein hat die Musik dem Jahr 1933 zu verdanken, als Hitler im Rahmen des Gewohnheitsverbrechergesetzes die bis heute nur notdürftig reformierten „Maßregeln der Sicherung und Besserung“ erließ. Laut NS-Ideologen galt der musisch-künstlerische Typ als der am schwersten zu resozialisierende Gewohnheitsverbrecher. „Rassisch gesund“ und kämpferisch sollte die deutsche Musik sein, die auch dann angestimmt wurde, wenn als „Ballastexistenzen“ bezeichnete Psychiatriepatientinnen und -patienten, Behinderte oder nicht mehr arbeitsfähige Strafgefangene ihren letzten Weg in die Gaskammern antraten. Die Arbeitsfähigkeit entschied über Leben und Tod. Künstlerische Werke, mit denen viele psychisch kranke Menschen überzeugen, galten als entartet. Eine kritische Auseinandersetzung mit der Psychiatrie der NS-Zeit ließ bis 2010 auf sich warten. Viele Täterinnen und Täter wurden niemals zur Rechenschaft gezogen.

Das Modell vom guten Leben

Das Grundrecht auf kulturelle Bildung und Teilhabe ist auch in freiheitsentziehenden Maßnahmen unantastbar. Die Patientinnen und Patienten in Uchtspringe begannen 2021 behutsam mit verschiedenen Instrumenten wie Klavier, Tischharfe oder Ukulele in Einzelsettings. Der Klinikalltag mit Zwangsgemeinschaft ist hart, der Musikraum wird als Insel erlebt. Behinderung oder soziale Ausgrenzung haben früh im Leben den eigenen Aktionsradius verkleinert. Die Musikangebote sind so konzipiert, dass kontinuierliche Erfolgserlebnisse möglich sind und die Selbstwirksamkeit gestärkt wird. Komponieren spielt eine große Rolle. Vollzugsziel ist ein straffreies Leben. Das geht hervorragend mit Musik, wenn sich an Rehabilitationskonzepten wie dem „Good-Lives“-Modell orientiert wird, das darauf abzielt, Straffreiheit durch die Befriedigung von Grundbedürfnissen wie dem selbstbestimmten Verfolgen eigener Ziele, innerem Frieden, Verbundenheit und Beziehungen, Gemeinschaft und Zugehörigkeit zu sozialen Gruppen, Spiritualität, Glück und Zufriedenheit sowie Kreativität zu erreichen. Im Grunde das, was sich jeder Mensch diesseits und jenseits von Gefängnismauern wünscht.

Mittendrin statt nur dabei

Wenn Hoffnung, Selbstbestimmung und Partizipation Realität werden sollen, schlägt die Stunde der Community Music. Den Weg aus dem geschützten Einzelsetting ebnete eine Konzertveranstaltung. Durch die Beschäftigung mit dem Repertoire verschiedener Epochen und Stile war die Lust auf ein Liveerlebnis gewachsen. Irgendwo im Nirgendwo in Sachsen-Anhalt hinter Gittern ist das eine ziemliche Herausforderung, denn nicht jeder möchte im Maßregelvollzug auftreten. Der MDR-Rundfunkchor kam jedoch, im März 2024. Mittendrin statt nur dabei war eine Patientengruppe, die sich mit den Profis die Bühne teilte und verschiedene Stücke performte. Weiterer Höhepunkt war die in einem Kunstwettbewerb für Strafgefangene preisgekrönte Komposition eines Patienten, die der Chor aufführte. Partizipativ war es; Community Music, bei der die Teilnehmenden aushandeln, was sie spielen, noch nicht. Seit dem Konzert spielt die multinationale Gruppe gemeinsam Eigenkompositionen. Jeder trägt etwas bei und wird in der Gruppe getragen. Frei von Leistungsdruck werden neue, sinnstiftende Erfahrungen gemacht. „Wir können mehr“ lautet der Refrain eines ihrer Songs. Daran zu glauben, das fällt in den Jahren und Jahrzehnten der Unterbringung in der Forensik schwer, daher ist es ein kraftvolles Manifest.

Exzellente Katzenmusik

Die stumme, streng hierarchische Institution ist plötzlich voller Resonanzen, wenn Menschen ermöglicht wird, frei von Leistungsdruck, Diagnosen, Vorerfahrungen oder Herkunft ihren Klang zu finden. Die für Community Music charakteristische Magie kann eine Transformation hin zu besseren Zukunftsaussichten und mehr sozialer Gerechtigkeit auslösen. Klingt idealistisch, aber mehrfach wissenschaftlich nachgewiesen ist, dass Community Music den Großteil der Grundbedürfnisse aus dem „Good-Lives“-Modell“ erfüllt. Exzellent wird es dann, wenn jeder im Rahmen seiner Möglichkeiten im Prozess das Optimum erreicht. „Das klingt wie Katzenmusik“, sagte einmal ein Pfleger am Rande einer Session, ein unfreiwilliges Kompliment. „Katzenmusik“ oder „Charivari“ besitzt seit dem Mittelalter eine rügegerichtliche Funktion, mit der, auch als Teil politischer Demonstrationen, Missstände angeprangert und Hierarchien infrage gestellt werden. Musik hat schon immer soziale Themen adressiert. Menschen zu ermöglichen, darauf aufmerksam zu machen, dass sie ihr Bestes geben, um eines Tages wieder in die Gesellschaft zurückzukehren und damit gleichzeitig Machtstrukturen einer totalen Institution infrage zu stellen, gehört eindeutig dazu.

Zur Autorin: Sandra Sinsch-Gouffi ist Musikpädagogin, Musiktherapeutin, Musikgeragogin, Community Music Facilitator und arbeitet und forscht im Maßregelvollzug. Ihr Einsatz dort wurde 2024 mit einem Award der UN-Beraterorganisation ICPA in Singapur ausgezeichnet. Davor arbeitete sie in Ägypten und der Türkei. sandrasinsch.de

Musik im Strafvollzug

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