Die aktuelle irische Folkszene

Oldschool ist zurück

24. März 2023

Lesezeit: 6 Minute(n)

Die Verleihung der RTÉ Radio 1 Folk Awards in Dublins renommiertem Livevenue Vicar Street vergangenen November lieferte viel Stoff zum Nachdenken, was den aktuellen Stand der Dinge in Sachen Irish Folk und traditionelle Musik in Irland betrifft. Hier ein paar Gedanken und Anregungen, wo und bei wem es sich in dieser Hinsicht lohnen könnte, in diesem Jahr Augen und Ohren offenzuhalten.
Text: Seán Laffey; Übersetzung: Stefan Backes

Betrachtet man zunächst das Begriffspaar „Folk“ und „Traditional“, zeigt sich darin bereits die ganze Komplexität irischer Musik. Traditionelle Musik ist mehr oder weniger geradlinig und besteht aus einem Korpus instrumentaler Melodien, von denen der Großteil der Tanzmusik zugerechnet werden kann, die heute paradoxerweise vom Tanzen als solchem losgelöst ist. Der Rest umfasst langsamere Weisen in freier Form, von denen viele sich von altem gälischem Liedgut herleiten sowie von Tunes, die aus der Überlieferung der bardischen Harfenisten des sechzehnten bis achtzehnten Jahrhunderts stammen. Aus diesen Quellen setzt sich das Hauptrepertoire von Bands wie The Bonny Men, Téada, Tulua, Socks in the Frying Pan, Danú und 3 On The Bund zusammen, die alle den Geist der Bothy Band aus den Siebzigerjahren heraufbeschwören. Was den Liedbereich betrifft, ist die Sachlage komplexer. Es gibt den Sean-Nós-Gesang, der schon wortwörtlich „alter Stil“ bedeutet und sich aus gälischsprachigen Liedern mit freiem Metrum zusammensetzt – ein hoch dekoriertes Genre mit charakteristischen Darbietungen, die sich nicht so leicht exportieren lassen. Englischsprachige Folksongs unterscheiden sich von der Herkunft her: Es gibt Lieder aus dem Norden der Insel, wo sich die englische Sprache zuerst etablierte, Balladen aus den urbanen Zentren im Osten und Süden der Insel, vor allem aus Dublin und Cork, und dann die kommerzielle Folkmusik, die ihre Wurzeln in Americana hat. Es finden sich Interpreten und Interpretinnen in allen diesen Stilen, manche puristischer, andere bereitwilliger, frei zwischen ihnen zu wechseln.

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„Der irische Beitrag zur Folkmusik der Britischen Inseln ist immens.“

Die jedes Jahr von der öffentlich-rechtlichen irischen Rundfunkanstalt verliehenen und präsentierten RTÉ Folk Awards sind noch eine recht junge Angelegenheit – die erste Ausgabe fand 2018 statt. Zum Vergleich: Die BBC Radio 2 Folk Awards in England gibt es seit dem Jahr 2000. Auch dort wurden seither viele irische Künstlerinnen und Künstler ausgezeichnet. Wie überhaupt gesagt werden kann, dass der irische Beitrag zur Folkmusik der Britischen Inseln immens ist. Der Uilleann Piper und Sammler Séamus Ennis etwa hat bei seinen Aktivitäten in den Fünfzigerjahren sowohl für Radio Éireann (den Vorläufer von Raidió Teilifís Éireann, RTÉ) als auch für die BBC viel für die Aufzeichnung von Folksongs getan. Und die Lieder und Tunes des ersten Folkrevivals werden heute von den Irish-Folk-Vertreterinnen und -Vertretern der aktuellen Generation wiederentdeckt. Die beiden wichtigsten Erkenntnisse in diesem Zusammenhang aus den Preisverleihungen 2022 waren dabei zum einen, dass in der Livesendung vor allem Lieder in irischer Sprache zu Gehör kamen, und zum anderen, dass das, was an Americana dargeboten wurde, ein wenig altmodisch wirkte. Die Folkrockveteranen von Scullion etwa spielten ein Stück, das weitgehend der Americana zugerechnet werden kann, weitaus größere Begeisterung im Saal löste aber der Crossover der irisch-persischen Band Navá aus.

Ein langer Atem und Ausdauer sind wichtige Faktoren in der irischen Folkmusik. So ist der erfolgreichste Folksänger des Landes weiterhin der 77-jährige Christy Moore, dessen Konzerte immer ausverkauft sind, oft schon drei, vier Monate im Voraus. Viele Musikerinnen und Musiker beginnen erst mit Ende dreißig, Anfang vierzig, semiprofessionell zu spielen, und es gibt keine Jugendfixiertheit wie in der Popmusikkultur. Wobei Universitäten und Hochschulen ihre Studierenden durchaus ermutigen, Ensembles zu gründen, die dann aber meist recht kurzlebig sind. Interessant in dem Zusammenhang ist die Formation 3 on the Bund mit dem deutschen Uilleann Piper Simon Pfisterer (auch bei der deutschen Irish-Folk-Band Cara aktiv), die 2019 zusammenfanden, nachdem sie sich beim Studium an der Irish World Academy der Universität Limerick kennengelernt hatten (zu einem eigenen Artikel über die Irish World Academy geht es hier).

„Ausdauer ist ein wichtiger Faktor in der irischen Folkmusik.“

Zwei der erfolgreichsten und authentischsten Musikschaffenden absolvierten den Ceoltóir-Kurs für traditionelle irische Musik am Ballyfermot College of Further Education in der irischen Hauptstadt: der Dubliner Daoirí Farrell und Lisa O’Neill aus dem County Cavan. Beide singen auf Englisch und greifen auf einen reichhaltigen Fundus an Folksongs zurück. Während O’Neill eigene Lieder in sehr traditionellem Stil schreibt, erstreckt sich Farrells weites Repertoire von unbekannten Balladen des neunzehnten Jahrhunderts über Lieder aus dem Nachlass des Volksliedsammlers Frank Harte bis zu Songs von Liam Weldon. Das Schwelgen in authentischen, ursprünglichen Folksongs ist aber auch ein Markenzeichen des Duos Ye Vagabonds, das sich aus den Brüdern Brían und Diarmuid Mac Gloinn aus der Grafschaft Carlow zusammensetzt (zum separaten Artikel über Ye Vagabonds geht es hier). Die beiden singen nicht nur Lieder aus Irland, sondern greifen auch auf die breitere Tradition der Britischen Inseln zurück. Ihre Version des englischen Traditionals „The Foggy Dew“ kam bei der Kritik besonders gut an, sollte aber nicht mit dem gleichnamigen irischen Rebel Song verwechselt werden. Eine weitere Band, die sich immer wieder mit englischem Folk beschäftigt, ist Lankum. Deren Mitglieder kamen nicht über die akademische Schiene zusammen, sondern starteten ihre Karriere mit Punkstraßenmusik in Dublin. Mit Sängerin und Frontfrau Radie Peat wird die Gruppe insbesondere auf dem britischen Folkparkett für das Aufrechterhalten einer tief reichenden Liedtradition gefeiert. Aber auch die Eigenkompositionen Lankums sind absolut hörenswert.

Ein weiterer Künstler, den man sich merken sollte, ist Cathal Ó Currain. Der Sänger, Fiddler und Bouzoukispieler aus Gweedore im County Donegal ist ebenfalls Absolvent der Irish World Academy in Limerick und auf dem Weg nach oben. Er war bereits in den USA auf Tournee und in Fernsehsendungen des irischsprachigen Senders TG4 zu sehen und zu hören. Mit Anfang zwanzig ist er das jüngste Mitglied des ebenfalls aus Donegal stammenden Trios The High Seas, außerdem tritt er mit Aoife Scott, der Tochter von Frances Black aus der berühmten Black Family, auf. Scott wiederum ist ein Naturtalent und bekannt für ihre bezaubernde Art, mit dem Publikum umzugehen – ihr natürliches und geistreiches Wesen machen ihre Konzerte zu einem Genuss. In dem Zusammenhang ist in letzter Zeit ein Trend zu beobachten, wonach Künstlerinnen bessere Chancen als ihre männlichen Kollegen haben, von Veranstaltungsorten gebucht zu werden. Empfehlenswerte Vertreterinnen einer neuen Generation von Sängerinnen sind in dieser Hinsicht Muireann Nic Amhlaoibh, Niamh Dunne, Pauline Scanlon, Susan O’Neill, Emma Langford und Sina Theil. Wie aber sieht es mit neuen, viel versprechenden Bands aus? In der Postcoronazeit erweist es sich derzeit als relativ unwirtschaftlich, eine Band zu gründen. Zwar gibt es in Irland einige Musikfestivals und jede Menge Pubs, in denen Sessions stattfinden, aber insgesamt zu wenige Veranstaltungsorte, um wiederholt rentable Touren durchführen zu können. Aus diesem Grund finden sich größere Formationen eher spontan oder auf einer zeitweisen Basis zusammen. Daoirí Farrell etwa tourt gelegentlich mit einem Trio durch Europa, während viele seiner Kolleginnen und Kollegen die Vereinigten Staaten ansteuern, um die Sommermonate zu überbrücken. Manche Bands sind semiprofessionell unterwegs wie zum Beispiel JigJam, die einen exzellent dargebotenen Mix aus Irish Folk und Bluegrass spielen, oder auch die junge Formation Boxing Banjo aus Galway, deren Line-up sich teilweise aus hauptamtlichen Lehrern zusammensetzt. Für sie bietet es sich allein aus beruflichen Gründen an, sich während der Sommerferien auf US-amerikanische Folkfestivals zu fokussieren.

Navá

Foto: Promo

Das jedes Jahr im August stattfindende Milwaukee Irish Fest – in einer der wohl deutschesten Städte der USA – ist ein solches Tor für Musikschaffende, die in den Staaten spielen wollen. Im Rahmen einer Kollaboration mit dem jährlich Ende Januar in Dublin ausgerichteten Temple Bar Trad Fest organisiert das Festivalteam aus Milwaukee regelmäßig einen Dubliner Showcase für aufstrebende Künstler und Künstlerinnen. Die Verantwortlichen reisen eigens über den großen Teich und wählen die Talente für ihr Festival aus, die sie am meisten beeindrucken. Vielleicht wäre es ja eine Idee, dass auch deutsche Veranstaltende für ein Wochenende nach Irland kommen, um einige der hiesigen angesagten Acts in ihrer Heimat in Aktion zu sehen.

Seán Laffey ist seit 1996 Autor, Redakteur und Fotograf beim Irish Music Magazine. Er ist auf zwei Alben mit Folkikone Liam Clancy vertreten. Kontakt: slaffey@gmail.com, www.irishmusicmagazine.com

 

Aufmacherfoto:

1 Kommentar

  1. Habe mich gefreut, nach langen Jahren der Abstinenz, alte und neue Namen zu lesen. Befinde mich gerade in Irland, werde aber wohl wegen des sehr frühen Mai noch keine Pub-Sessions genießen dürfen.
    Jedoch: Vielen Dank für die Anregungen.

    Beste Grüße

    Ulli aus Hamburg, Germany

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