Mit Reissäckchen und Daumenklavier: Musikmachen für alle

Ein Community-Music-Workshop im Konzerthaus Dortmund

23. Juni 2025

Lesezeit: 4 Minute(n)

„Hello everybody, I am Juan! Nehmt ein Instrument, das euch gefällt!“ Der quirlige Musiker aus Kolumbien greift selbst zu einer Ukulele und gibt ein kurzes rhythmisches Motiv vor: vier groovende Takte, die er in einer Endlosschleife wiederholt. Auf dem Parkettboden ausgebreitet liegt eine bunte Palette von Instrumenten, dekorativ angeordnet in einem Kreis: vier oder fünf Gitarren, ebenso viele Ukulelen, Glockenspiele, Bongos, zwei kleine afrikanische Daumenklaviere, eine Guiro. Forsch packt der Erste eine Gitarre, die Nächste nimmt ein Glockenspiel; manche Teilnehmenden zögern, überlegen einen Moment. Aber bald hält jeder ein Instrument in der Hand und klinkt sich in den Rhythmus ein. Der wackelt zunächst, stabilisiert sich langsam, beginnt zu grooven. „Jetzt gebt euer Instrument weiter“, ruft Juan und reicht die Ukulele seiner Nachbarin im Kreis. Die übergibt ihr Glockenspiel dem Nachbarn. So geht es weiter – auf Zuruf werden alle paar Minuten die Instrumente weitergereicht. Gitarren und Ukulelen sind „offen“ gestimmt, in Quinte und Oktave. So können alle Teilnehmenden sofort mitmachen, egal ob sie jemals ein Instrument erlernt haben.

Text: Tom Daun; Fotos: Tom Daun/Konzerthaus Dortmund

Zwanzig Menschen nehmen an diesem Sonntag am Workshop im Konzerthaus Dortmund teil; Frauen und Männer, Junge und Ältere, Laien und einige Profis. Fast alle haben ein paar musikalische Vorkenntnisse und viele ihr eigenes Instrument mitgebracht. Eine bunt gemischte Gruppe, nur wenige kennen sich untereinander. Als das Instrumentenkarussell vorbei ist, springt Juan auf, greift in eine große Tasche und holt Reissäckchen heraus – handtellergroß, in bunte Stoffe eingenäht. Und schon stehen alle Teilnehmenden in einem großen Kreis, Säckchen in der Hand – und los geht’s! Aus dem Lautsprecher tönt „Tico Tico“ und zum furiosen brasilianischen Samba führen alle Teilnehmenden nacheinander ein kleines „Kunststück“ vor: werfen das Säckchen in die Luft und fangen es auf; legen es auf den Kopf, auf die Schulter; reichen es durch die Beine von der linken in die rechte Hand und zurück. Jede dieser Aktionen wird von der ganzen Gruppe wiederholt, dabei bewegen sich alle zum Rhythmus der Musik. Bald fliegen die Säckchen quer durch den Raum, werden vom Gegenüber aufgefangen. Nach einer Viertelstunde wilden Spiels und Tanzes stehen die meisten trotz Winterwetter im T-Shirt da …

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Juan David Garzón

 

Jetzt folgt die Vorstellungsrunde. Auch das geschieht ohne große Worte. Juan beginnt einen kurzen Song: „Jeder Mensch ist anders, keiner ist wie du …“ Vier Zeilen, eine einfache Melodie. Die Gruppe stimmt ein, und wieder geht es reihum: Am Ende jedes Durchgangs nennt eine Person ihren Namen, danach die nächste. Die Gruppe wiederholt ihn im Rhythmus.

Spielerisch und ungezwungen geht es weiter: Wir erfinden eigene kleine musikalische Leitmotive, vertonen zu zweit selbst verfasste Minigedichte, schreiben in Gruppenarbeit alberne Songs, improvisieren Klänge zu kurzen Sketchen. So geht der Tag schnell vorbei.

In den Pausen gibt es Gelegenheit, ins Gespräch zu kommen. Etwa mit Gudrun, sie arbeitet ehrenamtlich als Musiktherapeutin im Altenheim, kommt aus Dortmund und ist begeistert von den Aktivitäten der „Community Musicians“ am Konzerthaus. „Wir hatten letztens im Park in der Nordstadt eine tolle Veranstaltung, mitten in einem sozialen Brennpunktviertel. Hunderte von Menschen, fast nur Laien, die vorstellten, was sie in den Workshops erarbeitet haben. Die Resonanz der Anwohner war überwältigend.“

Alle Teilnehmenden dürfen sich ein Instrument aussuchen

 

Vor sechs Jahren etablierte der Intendant des klassischen Konzerthauses, Raphael von Hoensbroech, die Abteilung „Community Music“ – nach dem Vorbild englischer Sinfonieorchester. Auf der Insel gibt es schon seit Jahrzehnten ähnliche Angebote. Die Grundidee ist simpel: Alle Menschen können Musik machen – und durch Musik kommen Menschen miteinander in Verbindung. Jede und jeder ist willkommen. Am Konzerthaus Dortmund sind in der Abteilung „Community Music“ vier Mitarbeitende angestellt, die pro Jahr etwa dreihundert Workshops, Kurse, Konzerte und andere Aktionen anbieten, Jamsessions etwa oder regelmäßiges Chorsingen ohne Noten. Das alles findet teilweise im Konzerthaus, teilweise in der Dortmunder Nordstadt statt. Hin und wieder finden auch Kooperationen mit großen Orchestern statt, die in Dortmund konzertieren.

„Das Konzept der Community Music funktioniert ohne Bewertung. Perfektion spielt keine Rolle.“

Der Gitarrist Juan David Garzón studierte Musik in Bogotá. Seit 2019 ist der Gitarrist und Bassist freiberuflich als Gastdozent und Kursleiter in den Bereichen Musikpädagogik und Community Music nicht nur am Dortmunder Konzerthaus, sondern auch in den Niederlanden, Großbritannien sowie in seiner Heimat Kolumbien aktiv. „Meistens arbeite ich mit Kindern oder Jugendlichen; oft in Gruppen von sozial Benachteiligten, etwa Kindern mit Gewalterfahrung, Geflüchteten oder Menschen im Jugendarrest. Das Allerwichtigste für diese Menschen ist, dass man jeden Einzelnen anhört, jedem eine Stimme gibt. Natürlich setzt man einen Rahmen, gibt eine grobe Struktur vor. Nur so kann eine musikalische Interaktion funktionieren und zu Ergebnissen führen. Aber das Konzept von Community Music funktioniert ohne Bewertung, Perfektion spielt keine Rolle.“

Garzóns Herangehensweise verzichtet dabei auf wortreiche Erklärungen. „Mein Türöffner ist die Musik. Ich beginne jeden Workshop mit ‚Action‘. Die Teilnehmenden sollen gar nicht erst anfangen, intellektuell an die Sache heranzugehen. Musik ist Spiel – es geht darum, den Moment zu erleben und zu genießen.“

Brigitte, Psychotherapeutin in Rente, ist so überwältigt von dem, was sie heute hier erlebt, dass sie den Tränen nahe ist. „Ich habe heute zum ersten Mal gespürt, wie mich das Singen in der Gruppe in der Seele berührt. Ein Instrument habe ich nie gelernt. In meiner Praxis habe ich die Patienten zwar auch mal singen lassen, aber nie selbst mitgemacht.“ Sie hat eher zufällig von dem Workshop gehört und ist dazugekommen, weil sie zu Hause gemeinsam mit einem Freund einen lockeren Singkreis organisieren will.

Maria del Mar Ribas, spanische Cellistin und Komponistin aus Köln, hat hingegen schon mehrere ähnliche Workshops mitgemacht. Ihr eröffnet die Beschäftigung mit Community Music neue Perspektiven. Seit einiger Zeit arbeitet sie mit der Philharmonie Köln zusammen – dort ist man, wie anderswo auch, neugierig auf das Konzept. Verständlich, denn: Musik hören ist schön, Musik selber machen aber noch schöner …

www.konzerthaus-dortmund.de/de/mitmachen/fuer-alle

www.juandavidgarzon.com

Fröhliche Gesichter nach einem gelungenen Workshop

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