Menschen durch gemeinsame Musikimprovisation und -komposition zusammenbringen, ausgehend von einer weltweit verständlichen Zeichensprache: Das ist die Idee hinter dem Projekt „Música con Señas“ des Tübinger Vereins Klangfolk. Bereits 2016 brachte der Klarinettist, Saxofonist und Komponist Cristóbal Araya Altamirano die in Argentinien entwickelte Methode nach Tübingen, seit einigen Jahren bietet er zusammen mit seinem Musikerkollegen Cédric Berner regelmäßig Sessions und Workshops an – mittlerweile deutschlandweit.
Text: Daniela Höfele; Foto: Farah Serghani
„Wer? Was? Wann?“ lautet die Reihenfolge, sozusagen der „Satzbau“ der Zeichensprache, die die Basis des Projektkonzepts darstellt. Die Zeichen selbst sind festgelegte, relativ intuitive Gesten und Symbole, die es einer dirigierenden oder arrangierenden Person in einer Gruppe Musizierender ermöglicht, unterschiedlichste Parameter wie Rhythmus, Tonlänge, Dynamik und Lautstärke darzustellen. Entwickelt hat sie der Argentinier Santiago Vazquez, der unter der Bezeichnung „Ritmo y Percusión con Señas“ („Rhythmus und Percussion mit Zeichen“) den Fokus zunächst auf rein rhythmisch-perkussives Musizieren legte. Mit „Música con Señas“ erweiterten Altamirano und Berner das Konzept und arbeiten heute sowohl mit Rhythmik als auch mit Harmonik und Melodik – mit oder ohne Instrumenten, mit oder ohne Gesang, mit erfahrenen und/oder unerfahreneren Musizierenden.
Die Töne, Melodien und gegebenenfalls auch Texte kommen dabei von den Teilnehmenden der Musiksessions. „Wenn ich in der Dirigentenposition bin, bitte ich durch ein Zeichen zum Beispiel eine Person, dass sie mir einen Text mit einer Melodie vorschlägt. Dann kommt die nächste Person mit dem nächsten Element – sie kann beispielsweise den Text übernehmen oder ihn erweitern oder einen B-Teil kreieren“, erklärt Altamirano. Klingt kompliziert? Muss es nicht sein. „Wir passen uns immer dem an, was die Gruppe braucht“, erläutert Berner. „Wie aufwendig es für die Teilnehmenden wird, hängt immer davon ab, wie viele Elemente der Zeichensprache man nutzen möchte. Wenn man die Sprache in ihrer ganzen Fülle erlernen will, braucht man mehrere Jahre. Wenn es – wie in den meisten unserer Workshops – aber darum geht zu erleben, wie Musizieren in einem sicheren Rahmen jenseits von Richtig und Falsch funktionieren kann, und zwar niedrigschwellig und spielerisch – nun, dann reicht schon eine Stunde.“
Die Einsatzbereiche der „Musik mit Handzeichen“ sind vielfältig. „Wir haben einerseits wöchentliche Sessions in Tübingen, an denen ein Pool aus insgesamt circa fünfzig Musikerinnen und Musikern mitwirkt. Andererseits waren wir mit Workshops auch schon in Asylheimen, Musikschulen oder auf Festivals“, berichtet Berner. „Außerdem wurden wir von verschiedenen Institutionen eingeladen, die Methode als Teambuildingkonzept anzubieten. Denn zum einen eignet sie sich sehr gut dazu, Menschen in Empathie zueinander zu bringen und einander zuzuhören, und zum anderen kann sie super dabei unterstützen, effizient Entscheidungen im Team zu treffen und unterschiedlichste Rollen einzunehmen.“
„Es ist eine der demokratischsten Formen des Musizierens.“
Das Konzept hinter „Música con Señas“ basiert auf einem starken Gemeinschaftsgedanken und beinhaltet, anders als die vorhandene Rolle eines Dirigenten oder einer Dirigentin vielleicht vermuten lässt, sehr flache Hierarchien. So können während einer Session entweder eine, mehrere oder auch mal keine Person dirigieren. Gleichzeitig gelten die Anweisungen einer dirigierenden Person nicht als „Befehl“, sondern immer als Vorschlag und können auch abgelehnt werden – beispielsweise wenn eine Musikerin oder ein Musiker aufgefordert wird, ein Solo zu spielen, dies aber nicht möchte. „Wir sprechen bei unseren Projekten nie politische Themen an“, merkt Altamirano an, „aber am Ende, denke ich, ist unsere Arbeit durchaus eine sehr politische. Bei uns gibt es keine Grenzen und keine Hierarchie, die Vorgehensweise ist nicht autoritär, sondern sehr frei. Neben der Musik ist es für uns am wichtigsten, dass sich alle willkommen fühlen und gemeinsam Spaß haben.“
Insbesondere für erfahrene Musizierende, die aus dem Orchesterbereich kommen, ist dies oft zunächst eine große Herausforderung, weiß Cédric Berner. „Wir erleben es manchmal, dass Menschen mit klassischer Musikausbildung erst mal sagen, ohne Noten können sie nicht musizieren“, erzählt der Projektleiter. „Sie haben diesen spielerischen Zugang zur Musik gar nicht erfahren, der in direkter Verbindung zu anderen Menschen steht, und eben nicht zu einem Stück Papier. Für sie kann es sehr befreiend sein, einmal durch eine Zeichensprache ins Musizieren zu kommen. Denn im Grunde ist ja auch das Lesen eines Zeichens das Lesen einer musikalischen Information – nur eben mit der Einladung, frei zu kreieren.“

Viel Freiheit heißt in diesem Fall auch: Weder die dirigierenden Personen noch die in Mentoringfunktion oder die Gruppe wissen vorher, welches musikalische Ergebnis bei einer Session oder auch einem Auftritt mit Música con Señas herauskommen wird. Doch genau darin liegt auch großes Potenzial. „Es ist total bunte Musik“, findet Berner. „Indem wir alle Menschen einladen, kommt dann plötzlich ein arabischer Maqam zum Vorschein, eine ungerade Taktart aus dem Balkan oder auch ganz zeitgenössische Musik – immer ausgehend von denjenigen Personen, die gerade dabei sind. Ich glaube, es ist eine der demokratischsten Formen des Musizierens, weil wirklich alle ihren Raum bekommen düfen und alle gleichwertig sind.“
Und die musikalische Qualität? Auch die bleibt nicht auf der Strecke. „Wir arbeiten ja selbst als Musiker und sind jedes Mal erstaunt, was für hochwertige Musik herauskommt“, sind sich die beiden einig. „Wenn wir uns Aufnahmen unserer Sessions hinterher anhören, ist das magisch.“ Kein Wunder also, dass Cristóbal Araya Altamirano und Cédric Berner die Ideen nicht ausgehen. Neben ihrer bereits bestehenden Música-con-Señas-Gruppe in Tübingen sollen nun auch Percussionkreise, Gesangsgruppen und ein festes Orchester entstehen. Außerdem laden sie regelmäßig zu Música-con-Señas-Festivals ein, bei denen ein ganzes Wochenende lang musiziert wird. Alle Informationen hierzu gibt es unter www.klangfolk.de/mcs.
Infos:
Der Klangfolk e. V. ist ein gemeinnütziger Verein aus Tübingen, der seit über zehn Jahren transkulturelle Projekte der Community Music umsetzt. www.klangfolk.de
Cristóbal Araya Altamirano ist Klarinettist, Saxofonist und Komponist und verfügt über zwanzig Jahre Bühnenerfahrung in verschiedenen Musikstilen. Neben Música con Señas gründete er mehrere Projekte wie Planet Cris, Soul’Mam und DieVagari.
Cédric Berner ist studierter Musiker und unter anderem Bouzoukispieler, Sänger und Komponist der Band DieVagari. Als Organisator und Mentor widmet er sich den transkulturellen Projekten Ethno Germany, Ethno Studio und Música con Señas. www.cedricberner.de
0 Kommentare