Dieser Mann war ein Phänomen. Noch zwei Wochen vor seinem Tod am 1. Oktober 2018 stand Charles Aznavour mit 94 Jahren im japanischen Osaka auf der Bühne. Immer noch mit einer starken Stimme und großer Fitness gesegnet, begeisterte er das Publikum. Mehr als tausend Lieder hat der armenisch-französische Chansonnier in seiner Karriere komponiert und über hundert Alben aufgenommen. Anlässlich seines hundertsten Geburtstags setzt der mitreißende biografische Spielfilm dem zu den herausragenden Vertretern des französischen Chansons zählenden Sänger nun ein leidenschaftliches Denkmal.
Im Mittelpunkt stehen dabei nicht so sehr eine lückenlose Präsentation von Aznavours Karriere, sondern die Psyche des Musikers und seine mitunter komplexen Beziehungen zu seinem Umfeld. Geboren am 22. Mai 1924 im Pariser Quartier Latin beginnt der Film damit, wie Aznavour in armen Verhältnissen aufwuchs. Seine Eltern waren aus Georgien und Armenien nach Frankreich geflohen, und die gesamte Familie wurde 1947 eingebürgert.
Für Aznavour, der selbst in über siebzig Filmen mitwirkte, war schon früh klar, dass er ein erfolgreicher Musiker werden wollte, und dafür war er bereit, jedes Opfer zu bringen. Bei seinem Aufstieg mussten aber nicht nur seine drei Ehefrauen und fünf Kinder zurückstecken, der charismatische Künstler schreckte auch nicht davor zurück, seinen langjährigen Partner, den Pianisten Pierre Roche, mit dem er als Kabarettsänger begonnen und sich in Kanada einen Namen gemacht hatte, fallen zu lassen. Geraten dazu hatte ihm Édith Piaf, die Aznavour jahrelang protegierte. Doch auch ihre enge Freundschaft bekam angesichts seines zunehmenden Erfolgs bis zu ihrem Tod tiefe Risse.
Wie schwer es Aznavour fiel, seinen Ehrgeiz mit seinem Privatleben in Einklang zu bringen, zeigt vor allem die Beziehung zu seinem 1951 geborenen, unehelichen Sohn Patrick Bordais, den er erst neun Jahre später anerkannte und der 1976 Selbstmord beging. In einer der intensivsten Szenen des temporeichen Films entscheidet sich Aznavour am Abend der Beerdigung für den Auftritt im Pariser Olympia und nicht für die Familie.
Es ist ein fesselndes Porträt des großen Chansonniers, das sowohl seine größten Erfolge wie den Auftritt in der New Yorker Carnegie Hall zeigt als auch das unerlässliche Getriebensein eines Ausnahmemusikers, der sich nach Anerkennung sehnte und immer irgendwie auf sich allein gestellt blieb. Großen Anteil an dem exzellenten, in Hollywood-Manier gedrehten Film hat das glänzende Spiel des 43-jährigen französischen Schauspielers Tahar Rahim. Er verkörpert Aznavour sehr feinfühlig und nuancenreich, nahezu authentisch. Das zeigt sich besonders in seinen hervorragenden Interpretationen großer Hits wie „La Bohème“, „Tu T’Laisses Aller“, „She“ oder „Emmenez-moi“. Der Film ist großes Kino und absolut sehenswert.
Erik Prochnow
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