Ein Mann betritt einen blau gekachelten Raum. Am Tisch sitzen fünf Männer mit Instrumenten, einer gibt dem Mann eine Audiokassette. Dann beginnen sie zu spielen, eine Frau singt mit einer Stimme, die wie ein lebendes Cello klingt. Es sind Teresa Salgueiro, Pedro Ayres Magalhães, Gabriel Gomes, José Peixoto, Franciso Ribeiro und Rodrigo Leão, die dort musizieren. Diese Szene aus dem Film Lisbon-Story von Wim Wenders von 1994 zeigt die Gruppe Madredeus und ihre Musik als kulturellen Bestandteil der Lissabonner Identität. Einer der Muszierenden ist Rodrigo Costa Leão Muñoz Miguez, der im (heutigen) Szene- und Kneipenstadtteil Bairro Alto der portugiesischen Hauptstadt geboren wurde und aufgewachsen ist. Er hat Madredeus mitgegründet – doch zum Zeitpunkt der Filmaufnahme hatte er dieses Kapitel seiner Karriere bereits hinter sich gelassen.
Text: Imke Staats
Der heute Sechzigjährige kann auf über vierzig erfolgreiche Jahre als Musiker und Komponist zurückblicken – und steckt noch mittendrin. Bekannt geworden ist er vor allem dadurch, Elemente traditionellen portugiesischen Liedguts mit Klängen aus Klassik und Pop zu verbinden. In den Achtzigern galt es in der Popmusik als uncool, nationale Werte und Traditionen zu mögen. In Madredeus zeigte sich diese Synthese jedoch als äußerst gelungen.
Rodrigo Leão erzählt durch Musik, was die Augen nicht sehen. Er liebt den Film und
schreibt Soundtracks oder filmische Musik, vertont Choreografien, komponiert für Kinder und Ausstellungen. Er tritt in den renommiertesten Konzerthallen der Welt auf und ist im eigenen Land so etwas wie ein Nationalstar. 2014 beauftragte ihn das portugiesische Parlament mit der musikalischen Gestaltung der Feierlichkeiten zum vierzigsten Jahrestag der Nelkenrevolution. Tausende verfolgten das Spektakel, das Leão mit dem Orquestra Sinfonietta de Lisboa, dem Fadosänger Camané, einer Trommelgruppe und einem Kinderchor arrangiert hatte.
Leão möchte neue Klangformen ausloten. Er experimentiert weltweit mit Musik diverser Stilrichtungen, kooperiert mit unterschiedlichsten Kulturschaffenden, etwa mit dem australischen Singer/Songwriter Scott Matthew und der dunklen Stimme der kanadischen Sängerin Michelle Gurevich, mit der britischen Portishead-Sängerin Beth Gibbons, dem Singer/Songwriter Neil Hannon von The Divine Comedy sowie Stuart Staples von den Tindersticks; er arbeitete mit Stars wie Ryūichi Sakamoto, auf seinen letzten Alben fanden sich musikalische Gäste wie die Fadosängerin und Poetin Lula Pena, der brasilianische Star Adriana Calcanhotto oder Joan as Police Woman.
Bevor Rodrigo Leão diese Solokarriere hinlegte, war er Teil verschiedener portugiesischer Bands.
Das Milieu, in dem er aufwuchs, umgab ihn früh mit Klängen. Im Bairro Alto schallte Musik aus den Kneipen, portugiesische Folklore genauso wie traditionelle Fados; er hörte Radio, den damaligen Britpop der frühen Achtziger. Seine Mutter konfrontierte ihn und seine drei Brüder mit Beethoven. Auch wenn Musik in seinem Elternhaus nicht die erste Rolle spielte – sein Vater war Ingenieur, seine Mutter Hausfrau –, wurde sie zu seinem Lebensinhalt. Sie interessierte ihn mehr als das später absolvierte Jurastudium. Leão war Autodidakt und lernte mit Freunden. Auf dem Flügel in der Aula seiner Schule probierte er in den Pausen Dinge aus. Mit zwölf fing er an, klassische Gitarre zu lernen – nicht ganz einfach für den Linkshänder. Beeinflusst vom Sound von Bands wie Joy Divison oder U2, gründeten Leão und seine Freunde Nuno Cruz und Pedro Oliveira 1982 die Band Setima Legião – er selbst spielte dort Bass und Keyboard.
„Melancholie ist nicht gleichbedeutend mit Traurigkeit, sie kann Hoffnung in sich tragen.“
Schon damals hatte er ein Faible für sehnsuchtsvolle, reich instrumentierte Melodien. Er wollte etwas schaffen, das gleichzeitig portugiesisch und völlig universell klang. Schon Ende 1985 probierte er mit dem Gitarristen und Songwriter Pedro Ayres Magalhães von Heróis do Mar aus, traditionelle portugiesische Musik und Klassik miteinander zu verbinden, was 1986 zur Gründung von Madredeus führte.
1994 drehte der deutsche Regisseur Wim Wenders anlässlich der Ernennung Lissabons zur Kulturhauptstadt Europas für dieses Jahr die Hommage an die Stadt Lisbon-Story, in der Madredeus eine Rolle spielten und wozu sie den Soundtrack lieferten (Ainda, dt. „Noch“), der europaweit in den Charts war. Für Madredeus bedeutete das den Start einer globalen Karriere. Doch Rodrigo Leão wollte sich weiterentwickeln und verließ die Band ebenso wie Setima Legião für seine Solokarriere.
Die Schlüsselworte der portugiesischen Folklore – Nostalgie, Sehnsucht, Melancholie – sind wichtige Bestandteile in Leãos Klangkosmos. Melancholie ist nach seiner Definition nicht gleichbedeutend mit Traurigkeit, sondern kann Hoffnung in sich tragen. Und sie spiegelt sich in allem: in der Musik, in den anderen Künsten, in den Dingen.
Sein Faible fürs Kino ließ ihn filmisch komponieren. Das manifestierte sich besonders 2004 im Album Cinema. Und natürlich hat er auch Musik für Filme geschaffen – international bekannt wurde etwa das Drama Der Butler von Lee Daniels aus dem Jahr 2013. Im selben Jahr steuerte er den Soundtrack zu Portugal, mon amour bei, der Reminiszenz an sein Land von Ruben Alves.
Über zwanzig Soloalben hat Leão bis heute veröffentlicht. Im April erschien sein neuestes Werk, O Rapaz Da Montanha („Der Junge vom Berg“). Darauf versammelt er alte Bekannte wie den Akkordeonisten Gabriel Gomes und den Gitarristen José Peixoto von Madredeus, aber auch seinen alten Freund und Sänger von Sétima Legiao, Pedro Oliviera, als Sänger und Produzent. Dazu Kolleginnen wie die Sängerin Ana Vieira oder die Geigerin Viviena Tupikova. Zu den Streichern und Gitarren setzt er wuchtige Percussion und Chöre ein und hat und einen tollen Raumklang austariert.
Auch seine Familie ist beteiligt: Die Kinder Sofia, Rosa und António singen, alle kommen im Titelstück zusammen. Die meisten Texte stammen von Ana Carolina Costa, seiner Frau. Statt wie sonst allgemein das Gefühl der „Saudade“ poetisch in Worte zu fassen, verhandeln die sechzehn Stücke diesmal explizit harte Realitäten. In „Guarda Te“ geht es um die Unterdrückung von Frauen, „Lobos Do Mar“ beschreibt die harte Arbeit auf See.
Bei allem Erfolg bleibt Leão ruhig und bescheiden. Er gilt als Familienmensch. Dennoch arbeitet er, so heißt es, zunächst am liebsten allein. Dabei nimmt er sich die Zeit, die er braucht, um seine Kreativität ganz zu entfalten. Erst dann integriert er andere. Das neue Album ist drei Jahre gereift. Rodrigo Leão hat entschieden, sich nicht von rein marktwirtschaftlichen Aspekten bestimmen zu lassen.
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