Weltmusik mit künstlicher Intelligenz kreieren – ist das möglich? Schließlich setzt solch ein Projekt Datenbanken mit großen Mengen von Samples vieler, meist akustisch gespielter Instrumente in einer Fülle von Stilen voraus. Ein junger türkischer Softwareingenieur erzielt seit 2024 erstaunliche Ergebnisse.
Ines Körver; Fotos: Zaruret Records
Wer sich öfter auf Youtube tummelt, um Musik zu hören, hat sie sicher schon einmal in den Empfehlungen angezeigt bekommen: Videos, die versprechen, zu Gehör zu bringen, wie Bands wie Led Zeppelin, die Beatles oder Deep Purple geklungen hätten, wären sie in den 1940er- oder 1950er-Jahren aktiv gewesen. Nach einigen Takten wendet man sich meist mit Grausen ab, denn das dargebotene und mithilfe künstlicher Intelligenz (KI) generierte Material arbeitet zwar meist mit den Texten der entsprechenden Acts, die Lieder jedoch haben nichts mit den Originalen zu tun. Sie reproduzieren weder die Melodie noch die Akkordstruktur in Retrostilistik. Mitunter stimmt nicht einmal die Taktart. Ganz offensichtlich handelt es sich um Clickbaiting, um Einkommen zu generieren. Wer auch immer das Zeug produziert, hat sich nur endlich viel Mühe gemacht.
Auch im Weltmusikbereich fallen allmählich mehr und mehr Kanäle auf, die mithilfe von KI generierte Musik darbieten. Doch die dort offerierten Tracks sind zum Teil um einiges erfreulicher. Einen vielversprechenden Ansatz hat der 33-jährige Volkan Samet Altuntaş gewählt, der im Istanbuler Stadtteil Kadıköy wohnt. Er versucht mittels KI auszuloten, wie sich von ihm selbst erdachte Bands im Laufe ihrer Karriere entwickelt hätten. Die fiktiven Karrieren starten zum Teil in den 1970er-Jahren und erstrecken sich über ein paar Jahrzehnte. Spürbar werden dabei zeitgenössische Strömungen, zum Teil wird auch simuliert, wie etwa zwei der Bands klängen, wenn sie sich im Laufe der jeweiligen Karriere für ein Album zusammengetan hätten.
„Es gibt eine Notwendigkeit, Musik mithilfe neuer Technologien zu kreieren.“
Altuntaş hat unter anderem Grafikdesign und Softwareentwicklung studiert, spielt aber keinerlei Instrument. Er unterhält seit März 2024 den Youtube-Kanal Zaruret Records. Zaruret ist ein türkisches Wort, das „Notwendigkeit“ bedeutet. Altuntaş sagt dazu: „Ich habe den Namen gewählt, weil dieses Projekt für mich zu einer inneren Notwendigkeit wurde. Außerdem glaube ich, dass es eine Art ‚Notwendigkeit‘ gibt, Musik mithilfe neuer Technologien zu kreieren und dabei über traditionelle Methoden der Musikproduktion hinauszugehen, insbesondere in einer Zeit, in der sich die Technologie so rasant entwickelt.“
Auf dem Kanal Zaruret Records findet sich eine Reihe fiktiver türkischer Bands, darunter Dadalar, eine psychedelische Band, die inspiriert ist von der Bektaschi-Aleviten-Philosophie und türkischer Poesie. Auch mit dabei: Miskinler. Der Name spielt auf ein Konzept des Sufismus an. Ein miskin ist jemand, der frei ist von weltlichen Ambitionen und mit sich selbst im Reinen lebt. Und dann gibt es noch Savaş Panço. Wer die Geschichte der türkischen Rockmusik kennt, weiß sofort: Dieser fiktive Künstler wurde angelehnt an Barış Manço konzipiert, einen der großen des Anadolu Rock der 1960er- bis 1990er-Jahre. Ironisch dabei: Savaş heißt „Krieg“, barış hingegen bedeutet „Frieden“, und der fiktive Widerpart singt dezidierte Antikriegslieder. Sein Engagement erklärt Altuntaş wie folgt: „Türkische Psychedelic- und anatolische Rockmusik gehört zu den interessantesten und reichhaltigsten Teilen der Weltmusikgeschichte. Sie genießt aber nicht die internationale Anerkennung, die sie verdient. Legendäre Musiker und Bands wie Erkin Koray, Barış Manço, Cem Karaca und Moğollar haben in den 1970er-Jahren großartige Werke geschaffen. In diesen Projekten wollte ich der Frage nachgehen: Was wäre, wenn diese Bewegung breiter gewesen wäre und mehr Gruppen Musik in diesem Stil produziert hätten?“
„Transparenz ist wichtig für die gesunde Entwicklung dieser Technologie.“
Zaruret Records veröffentlicht aber auch fiktive nicht türkische Weltmusik. Dazu gehören die in Belgrad angesiedelte Turbofolkcombo Nova Zora, die in der Karibik verorteten Concubanas und die mit afrokubanischem Jazz, Funk und anderen lateinamerikanischen Grooves aufwartenden Trinidad Funk. Und Zaruret Records ist nicht der einzige Youtube-Kanal, den Altuntaş unterhält. Nachdem er eine Reihe von unterschiedlichen Bands und Künstlern erdacht und Alben für sie konzipiert hatte, hatte er die Befürchtung, es könnte allmählich etwas unübersichtlich werden. Daher hat er weitere Kanäle aufgebaut. Er sagt dazu: „Während sich Yakazha Records eher auf Ambient, elektronische und experimentelle Musik konzentriert, ist Kalkutah Records auf Weltmusik und Fusion-Projekte spezialisiert.“ Hinzugefügt sei, dass sich auch bei Yakazha ein sehr vielseitiges Weltmusikportfolio findet. Zu den dort vertretenen Acts zählen Shekkeron (westafrikanische und Afrobeatstücke), Red Sand Dance (Tuaregmusik aus Algerien), The Peruvians (psychedelischer Rock und Surfmusik aus den Anden) sowie Erdver (eine deutsch-skandinavische Pagan-Folk-Band, die etwas an Faun erinnert und mit beeindruckenden Soundsamples akustischer Instrumente aufwartet).
Doch was macht so ein Kanalbetreiber eigentlich genau, der mit KI arbeitet? Altuntaş listet folgende Tätigkeiten auf:
- Konzeptentwicklung (Festlegen der Geschichten, Epochen und Stile fiktiver Gruppen und Alben)
- Prompt-Entwicklung (detaillierte Befehle an die KI)
- Auswahl und Kuratierung (Auswahl der besten aus Dutzenden oder sogar Hunderten von KI-generierten Stücken)
- Achten auf Konsistenz (besonders bei Alben und in der musikalischen Entwicklung der fiktiven Bands)§ Postproduktion (Bearbeitung der Tracks, Mixing und Mastering)
- Visuelles Design (Erstellung von Albumcovern und Werbematerialien).
Altuntaş vergleicht seine Arbeit mit der eines Fotografen, der seine Kamera einsetzt, oder eines Musikers, der sein Instrument benutzt. „Das Werkzeug ist anders, aber der kreative Prozess liegt weiterhin in menschlicher Hand.“ Er selbst gibt in seinen Kanalinfos und oft auch bei den Bandporträts an, dass er mit KI arbeitet. Er sagt: „Wer seinen KI-Einsatz verheimlicht und so tut, als hätte er seine Musik komplett selbst entwickelt, schadet langfristig sowohl sich selbst als auch der KI-Kunst. Transparenz ist wichtig für die gesunde Entwicklung dieser Technologie.“ Er meint aber auch: „Ich glaube nicht, dass Künstler verpflichtet sind, ihre Werkzeuge vollständig transparent zu machen – schließlich muss ein Gitarrist auch nicht angeben, welche Pedale er benutzt, oder ein Maler, welchen Pinsel er zur Hand nimmt.“
Für die nächsten Monate hat sich Volkan Samet Altuntaş viel vorgenommen. Dazu zählen das Projekt Glass Grooves mit japanischem Citypop und elektronischer Ambientmusik sowie eine Dokumentation, um KI-basierte Musikproduktionsprozesse transparenter zu machen. Der folker plant, sich im nächsten Jahr in einem eigenen Schwerpunkt mit den weiteren Entwicklungen auf dem Gebiet KI-basierter Welt- und Folkmusik auseinanderzusetzen – im Hinblick sowohl auf Chancen als auch auf Risiken.
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