Wiebke Colmorgen und Hardy Kayser

Das Französisch des Nordens

21. September 2023

Lesezeit: 5 Minute(n)

Wiebke Colmorgen hat es gut getroffen. Als ehemaliges Landei lebt sie mitten in Hamburg und genießt die Nähe zu Hafen, Kultur und Trubel. In der Hamburger Musikszene ist die fröhliche Frau mit dem wuscheligen Lockenkopf hinreichend bekannt, was unter anderem daran liegt, dass sie über Jahrzehnte in der Musikwelt aktiv war, unter anderem beim Hamburger Sender Tide in eigenen Radio- und TV-Formaten Hamburger Musikschaffende vorstellte und als eine der Radiostimmen des Norddeutschen Rundfunks mit „Narichten op Platt“ viele Menschen erreicht und erfreut. Dabei spricht Colmorgen eine Sprache, die zwar noch viele verstehen, aber selbst nicht mehr sprechen: Sie schnackt Platt. Das können innerhalb Hamburgs etwa nur noch hunderttausend andere Leute von rund 1,85 Millionen Einwohnerinnen und Einwohnern.
Text: Imke Staats

Wiebke Colmorgen liebt den Klang des Platt und findet, dass es eine wunderbare Sprache zum Singen ist. Sie nennt es „das Französisch des Nordens“. Tatsächlich gibt es eine Menge französischer Lehnwörter, die aus der Zeit der französischen Besetzung des Münsterlandes durch Napoleons Truppen 1806 bis 1813 stammen, welche in oft veränderter Form in den heutigen Sprachgebrauch tradiert wurden. Beispielsweise basiert der allgegenwärtige Abschiedsgruß „Tschüs!“ oder „Adjüs!“ auf „Adieu!“. Dabei ist das Niederdeutsche, zu dem das Plattdeutsche gehört, kein Dialekt, sondern eine eigene Sprache, die regional unterschiedlich ausgeprägt ist. Die Plattliebhaberin stammt von einem Hof bei Gadendorf, einem kleinen Dorf in der Nähe von Lütjenburg an der Ostsee, wo sie mit dem dortigen Dialekt aufgewachsen ist. „In der Küche war’s wie im Ohnsorg-Theater“, sagt sie heute, denn wer vom Dorf kommt, weiß, dass die Küchen jederzeit offen und der Umschlagplatz für Neuigkeiten aller Art sind. Schon als Kind hat sie manchmal bei Seniorenkaffeekränzchen gesungen. Organisiert hatte diese Frau Kayser, die Mutter von Hardy Kayser, der heute den instrumentalen Part des Duos bildet. Doch damals hatte sie mit ihm noch nicht viel zu tun. Schließlich kam sie vom Ortsrand und er aus Gadendorf-City, was zufällige Begegnungen beinahe ausschloss. Zudem zog Kayser bereits früher in die große Stadt.

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„In der Küche war’s wie im Ohnsorg-Theater.“

Erst Jahre später, Colmorgen hatte längst in der Radiowelt Fuß gefasst, begegneten sich die beiden erneut. Kayser arbeitet schon seit den Achtzigern in Hamburg als Musiker. Er kooperierte unter anderem mit Rocko Schamoni und Ernst Kahl, schreibt Lieder für Annett Louisan und Ina Müller. „Ich wollte Hardy gerne fürs Radio porträtieren, und zwar op Platt, weil ich ihn als Musiker toll fand“, erzählt die Sängerin. Ein Treffer, denn neben seinen musikalischen Fähigkeiten spricht er auch Plattdeutsch, was selten vorkommt. Kayser meinte damals zu ihr: „Willst du nicht mal einen Liedtext op Platt schreiben?“
Das war eine gute Idee. Die beiden wurden ein Team und arbeiten harmonisch und effizient zusammen. Das übliche Arbeitsprozedere startet mit dem Text, der meistens von Colmorgen kommt und manchmal von Kayser mitentwickelt wird. Er bringt dann musikalische Ideen ein, denn er ist für die Kompositionen zuständig. Im Pingpong wir der Song ausgearbeitet. Inzwischen sind zwei gemeinsame Alben entstanden. Der Stilmix reichte beim ersten von Rock und Pop über Swing und Chanson bis zu Hip-Hop. Das Debüt von 2018 –
Plattkinner: Neue plattdeutsche Songs für Hamburg und den Norden –, wurde konkret für das Singen mit Kindern konzipiert und ist eine Kombination aus illustriertem Liederbuch, CD und Noten. Darin finden sich neue Lieder aus der Welt moderner Kinder wie „Wi sünd ut Hamborg un nich ut Zucker“ oder „So ’n Schiet“ über alles, was täglich so schief gehen kann – jeweils mit „de Översetten“ ins Hochdeutsche dazu.

Lucas Santtana

Jérome Witz

Bei ihren Singlesungen an Grundschulen erlebt Wiebke Colmorgen, dass die Kinder grundsätzlich neugierig sind und mitmachen, egal welche Muttersprache sie sprechen. Die ersten plattdeutschen Begriffe sind schnell gelernt, mit Musik geht vieles leichter. Die Darbietungen des Duos kommen beim jungen, aber auch älteren Publikum bestens an.

Zum Erscheinen ihres Nachfolgers, der Plattplatte 2021, kooperierten sie mit der Initiative Oll Inklusiv, die Menschen über sechzig dazu anregen will, weiter am aktiven Leben teilzunehmen. Auf diesem Werk sind zehn alte und neue Songs versammelt, die sich vornehmlich an Senioren und Seniorinnen richten. Stilistisch bleiben Colmorgen und Kayser hier mehr bei Chanson, Swing und Volksmusik. Die Frau von der Ostseeküste nutzte dabei die Chance zur Korrektur eines All-Time-Hits und machte aus den „Nordseewellen“ wieder die ursprünglichen „Ostseewellen“ wie in der Urfassung von Martha Müller-Grählert (1867-1939).
Der Spaß am Wort findet sich in Titeln wie „Vigeliensch“ („Knifflig“) oder „Bregenklöterig“ – letzterer thematisiert eine gewisse Schusseligkeit, die nicht nur im Alter vorkommt. Neben einem über allem liegenden trockenen Humor wird es gelegentlich auch sentimental, etwa beim nostalgischen Blick in die Vergangenheit in „Dat is as dat is“.

Die Songs für das dritte Album sind bereits geschrieben. Es ist für Frühling oder Sommer 2024 geplant und soll auch jüngere Erwachsene ansprechen. Thematisch wird es diesmal persönlicher, autobiografischer. Musikalisch geht es mehr in Richtung Country und Folk, denn schließlich ist Platt ja die Sprache, die auf dem Land gesprochen wird. „Da passt Country als Musikrichtung sehr gut“, so Hardy Kayser.

Die beiden fühlen sich allerdings nicht dafür zuständig, mit ihren Liedern das Plattdeutsche zu retten oder gar zu konservieren. Für sie ist Platt lebendig und kann sich durch neue Einflüsse weiterentwickeln. Sie wollen schöne Songs in der Mundart machen, mit der sie großgeworden sind und mit der sie Geschichten verbinden. „Das ist das Schöne, dass einem sofort Bilder in den Sinn kommen, wenn man die Lieder singt oder hört“, sagt Wiebke Colmorgen. „Das macht auch live besonders viel Spaß, wenn die Leute an den richtigen Stellen lachen oder gerührt sind und nach dem Konzert mit ihren eigenen Anekdoten zu einem kommen.“ Platt verbindet – genau wie Musik –, und dazu muss man es noch nicht einmal können.

www.grosse-freiheit-music.com/wiebke_und_hardy.php
www.oll-inklusiv.de

 

Aktuelles Album:

Plattplatte (Grosse Freiheit/Tapete Records, 2021)

 

Buchtipp:

Wiebk Colmorgen & Hardy Kayser, Plattkinner – Neue plattdeutsche Songs für Hamburg und den Norden (Junius-Verlag, 2018, www.junius-verlag.de/Programm/JUNIUS-junior/Plattkinner.html)

 

Videolink:
Youtube-Kanal: www.youtube.com/channel/UCMNhfZ8Kptzmp3w21TcGwjA

 

Aufmacherfoto:

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